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Strafrunde für Dilma Rousseff

Die amtierende Präsidentin hat grobe Fehler gemacht, viele Bürger sind unzufrieden. Wenn Rousseff jetzt nicht auf die Protestwähler zugeht, gefährdet sie ihre Wiederwahl.

Am Wahlsieg dürfte die amtierende Präsidentin Dilma Rousseff wohl kaum Grund zur Freude finden. Zwar errang die Kandidatin der Arbeiterpartei PT 41 Prozent der Stimmen und zieht in drei Wochen als Favoritin in die Stichwahl gegen den konservativen Sozialdemokraten Aécio Neves. Doch ein Drittel der Brasilianer haben ungültig gewählt oder ihre Stimme an die charismatische Ex-Umweltministerin Marina Silva gegeben.

Die Präsidentin erntet damit die Quittung für ihre volksferne Sprödigkeit – und ihre politischen Fehler der jüngsten Vergangenheit. Geht sie jetzt nicht auf die Protestwähler zu, gefährdet sie die Erfolge der vergangenen zwölf Jahre: eineerfolgreiche Armutsbekämpfung und die Konsolidierung Brasiliens als wirtschaftlicher und politischer Weltspieler.

Die Unzufriedenheit der Bevölkerung macht sich in vielen Bereichen bemerkbar. Mehrere Korruptionsfälle in ihrer Partei und die stockende Konjunktur haben der Präsidentin Stimmen gekostet, ohne dass sie groß etwas dagegen hätte unternehmen können. Doch bei anderen Themen ist sie nicht ganz unbeteiligt am Missmut der Wähler. So könnte der Präsidentin auch die tägliche Polizeigewalt die sicher geglaubte Wiederwahl kosten.

So wie der Mord an Carlos Augusto Braga vor zwei Wochen. Während einer Beschlagnahmung von raubkopierten DVD in São Paulo schießt ein Polizist einem Straßenverkäufer, der ihm ein Pfefferspray entreißen will, aus nächster Nähe ins Gesicht. Mehrere Passanten filmen die Szene zufällig und stellen das Video ins Netz. In ihrer offiziellen Darstellung spricht die Militärpolizei von einem versehentlich abgefeuerten Schuss. Die Videos legen das Gegenteil nahe. Erst als die Filme auf wütendes Echo stoßen, korrigierte sich die Militärpolizei und leitete Ermittlungen gegen den Polizisten ein.

Bürger fühlen sich von der Politik allein gelassen

Es ist nicht allein die brutale und tägliche Polizeigewalt, die viele Brasilianer erzürnt, sondern auch der arrogante Umgang der Behörden mit den Bürgern. Von der Regierung fühlen sie sich allein gelassen. Diese Ohnmacht brodelte erstmals im Juni 2013 landesweit hoch, als Rousseff die Proteste der jungen Mittelschicht erst willkommen hieß, dann mit übertriebener Polizeigewalt niederknüppeln ließ.

Damals verstanden wenige, wie eine Präsidentin, die selbst jahrelang im Foltergefängnis der Militärs einsaß, das zulassen konnte.

Rousseff spielte nicht nur mit ihrer Glaubwürdigkeit als Freiheitskämpferin, sie verprellte auch die größte Wählergruppe im Land: 40 Prozent der wahlberechtigten Brasilianer sind zwischen 16 und 34 Jahre alt. Viele von ihnen haben von der Sozialpolitik der PT von Rousssef und ihrem Vorgänger und Mentor Lula da Silva profitiert. Indem sie von der Regierung ausgehandelte Mindestlöhne beziehen, Sozialwohnungen des Staates bewohnen oder dank staatlicher Stipendienprogramme studieren. 40 Millionen Brasilianer gehören dank der Umverteilungspolitik unter Lula da Silva und Rousseff heute nicht mehr der Armen-, sondern der Mittelschicht an. Sie ist mittlerweile auf die Hälfte der Bevölkerung angewachsen.

Die neue Mittelschicht lässt sich nicht abspeisen

Diese Neu-Bürger haben jedoch steigende Bedürfnisse: gute medizinische Versorgung, ein gerechtes Bildungswesen, bezahlbare Bustickets. Von der Sicherheit in Großstädten ganz zu schweigen. Dass sich die neue Mittelschicht nicht mehr mit Brot und Spielen abspeisen lässt, hat Rousseff während der Fußball-Weltmeisterschaft zu spüren bekommen. Beim Eröffnungsspiel der Fußball-WM in São Paulo pfiffen sie die Zuschauer im Stadion gnadenlos aus, weil die Staatschefin lieber ein polizeilich geschütztes Heile-Welt-Theater inszenierte, als die Sorgen der Menschen ernst zu nehmen.

Eine Lektion, aus der Stichwahl-Herausforderer Aécio Neves schon Profit ziehen konnte. Obwohl dem neoliberal eingestellten Ex-Gouverneur die soziale Umverteilung unter Rousseff zuwider sein muss, hat er es vermocht, im Wahlkampf als Versöhner zwischen den Lagern, als Präsident aller Brasilianer aufzutreten.

Ohne die Schützenhilfe seiner beiden direkten Kontrahentinnen wäre Neves wohl dennoch abgeschlagen auf dem dritten Rang gelandet, wie die Umfragen lange voraussagten. Erst entblößte Staatschefin Rousseff in ihren treffsicheren Attacken die Widersprüche in Silvas Regierungsprogramm. Und dann verschreckte die frühere Kautschukpflückerin Silva ihre liberalen Wähler, als sie sich als Mitglied einer evangelikalen Pfingstkirche zu erzkonservativen Weltanschauungen bekannte. Neves beschränkte sich auf staatsmännisches Räsonieren – und überrundete Silva auf der Zielgeraden.

Dabei würde Neves als Präsident vor allem im Sinne der Unternehmer handeln und die starke Rolle des Staates in der Wirtschafts- und Sozialpolitik deutlich zurückschrauben. Präsidentin Rousseff ist also gut beraten, ihre vergraulten Wähler über den Politikwechsel zu informieren, der mit Neves in Brasília einkehren würde. Und das betrifft auch den außenpolitischen Führungsanspruch Brasiliens in der Region.

Schon kurz nach dem Amtsantritt Lula da Silvas 2003 kam es zum Bruch mit den USA: Im Verbund mit Argentinien ließ Brasilien die von den USA geplante Gesamtamerikanische Freihandelszone (FTAA) platzen. Die guten Beziehungen Brasiliens zu Venezuela, Kuba oder dem Iran waren den USA ebenso ein Dorn im Auge wie umgekehrt die brasilianische Kritik an ihrem eigenen Treiben in der Region: Und die erfolgte 2009, als die USA den Militärputsch in Hondurasbilligten, oder als die USA schrittweise den Anti-Drogen-Krieg in Lateinamerika ausweiteten.

Klare Ansagen an die USA

Diese Unabhängigkeit von den USA wollte Lula da Silva in dem Südamerikanischen Verteidigungsrat der Union Südamerikanischer Nationen (Unasur) zementieren. Erstmals erörterten Außen- und Verteidigungsminister aus Südamerika Sicherheitsfragen in einem Gremium, von dem die USA ausgeschlossen blieb. Eine Drohung mit ähnlicher Konsequenz richtete Rousseff an die amerikanischen Datensammler Google & Co, als ihre Kooperation mit der Spähwut der NSA bekannt wurde. Wollten sie ihre Dienste weiterhin in Brasilien anbieten, müssten sie ihre Serverfarmen auch dort ansiedeln – und damit unter brasilianisches Recht stellen. Die harsche Kritik Rousseffs an der NSA auf der UNO-Vollversammlung 2013 gehört ebenfalls in diese USA-kritische Tradition.

Diese außenpolitische Eigenständigkeit hat Brasilien Respekt und Verantwortung beschert, etwa für die Leitung von Peacekeeping-Missionen wie in Haiti, aber auch bei den Verhandlungen über Agrarsubventionen in der G20-Runde. Dass seit 2013 der Brasilianer Roberto Azevêdo die Welthandelsorganisation WHO leitet, ist der beste Beweis dafür, dass bei Fragen der globalen Handelsgerechtigkeit an Brasilien kein Weg vorbei führt.

Natürlich ist nicht gesagt, dass der konservative Kontrahent Rousseffs, Aécio Neves, die außenpolitische und wirtschaftspolitische Ausrichtung grundlegend neu verorten will. Aber klar ist auch, dass sein favorisiertes Wirtschafts- und Sozialmodell unternehmerfreundlicher, und damit auch stärker an neoliberalen Wirtschaftspartnern – sprich den USA – ausgerichtet sein dürfte.

Rousseff muss Antworten für die Enttäuschten finden

„Ich will die Präsidentin aller Brasilianer sein“, hat Rousseff 2010 nach ihrem Wahlsieg versöhnend der Opposition zugerufen. Vier Jahre später scheint ihr Herausforderer diese Haltung einnehmen zu wollen. Will Dilma Rousseff nicht ihre Widerwahl gefährden, muss sie Antworten für die Enttäuschten, für die Protestwähler der ersten Wahlrunde finden. Gelingt ihr das, könnte sie bald dort anknüpfen, wo sie kurz vor den Juni-Protesten 2013 schon mal war: die beliebteste brasilianische Regierung seit der Rückkehr zur Demokratie.