Textbeitrag

Wo sich der Zeichenvorrat erschöpft

Performance-Poeten machen aus Peter Weiss’ Roman „Der Schatten des Körpers des Kutschers“ ein schillernd-verstörendes Bühnenerlebnis.

Wie das fünfköpfige Team um Kulturpreisträgerin Pauline Füg den handlungsarmen Avantgarde-Roman von Peter Weiss zu einer akustisch-visuellen und kreativ-interaktiven Bühnenkunst verdichtet, mag nicht jedermanns Geschmack sein. Fesselnd ist die beeindruckende multimediale Bühnenchoreografie „Schatten. Körper. Kutscher“ in jedem Fall, die am Donnerstagabend im barocken Kaisersaal der Bayerischen Musikakademie aufgeführt wurde.

Folgende Szene als Geschmacksprobe: Ein Anzugträger steht auf einem Möbelstück und streichelt zärtlich seine Geige, während zwei regungslos im Schatten verharrende Gestalten im Duett abwechselnd-ergänzend lyrische Gedanken vortragen. Behaglicher Club-Sound umschmiegt die sonoren Stimmen der beiden Spoken-Word-Künstler, die vom Licht der mantrahaft wiederkehrenden Video-Projektionen umhüllt sind, die auf die Leinwand hinter der als modernen Wohnraum gestalteten Bühne projiziert werden. In dieses geschlossene Text-Klang-Licht-Schatten-Universum dringt von Zeit zu Zeit eine Radiostimme aus dem Off, die Textfragmente des Romans vorliest: monotone Beschreibungen eines Ich-Erzählers über die Ereignisse auf einem ländlichen Gut.

„Großraumdichten“ integriert

Diesen äußerlichen Schilderungen setzen die Poeten Pauline Füg und Tobias Heyel Texte aus eigener Feder entgegen, die größtenteils in Form von inneren Monologen über menschliche Empfindungen und Erfahrungen reflektieren. Reisen „an Grauzonen vorbei“ oder der „Zauberspruch für Verwundete“ kontrastieren mit dem sachlich-nüchternen Stil der gelesenen Originalpassagen. Dabei greifen die Slammer auch auf ihr gemeinsames Repertoire zurück, das sie unter dem Namen „Großraumdichten“ veröffentlichen.

Als die beiden Künstler vor drei Jahren vom Peter-Weiss-Haus Rostock für die Idee einer Adaption des 1952 entstandenen Romans geworben wurden, war dem Duo klar, dass es dafür Unterstützung brauchen würde. Neben ihren eigenen Stimmen, die dem Text auf der Bühne eine „weitere Dimension“ geben, schaffen Video-Installationen und verschiedene Klangelemente das Abbild des „Chaos“ und des „formübergreifenden Stils“ des Romans, der das Team zu dieser erfahrenswerten Inszenierung inspiriert hatte.

Die Romankenner im Publikum mögen den Schlusspunkt des Originaltextes vermisst haben, der mit der Ankunft des Kutschers endet. Darin beobachtet der Erzähler die Vereinigung des Schattens des Kutschers mit dem der Haushälterin – das Bild wird als Anspielung auf Platons Höhlengleichnis verstanden. In der Schlussszene der Adaption verlässt der Anzug tragende Violinist (Simon Kluth) mit einem portablen Kassettenrekorder den Saal und lässt die Zuschauer so in plötzlicher Stille zurück.

Was wichtig ist, ist nicht da

So bleiben neben wenigen klaren Bezugspunkten zum Roman sehr viel ästhetische Sinneseindrücke haften, die sich ganz gut in der Phrase widerspiegeln, die Pauline Füg und Tobias Heyel mehrfach während der Aufführung gebetsmühlenartig herunterbeteten: „Die Sprache ist nur ein begrenzter Zeichenvorrat. Und was wichtig ist, ist nicht da“. Ein Ausspruch ganz im Sinne der Poetry-Slam-Literatur, in der sich Füg und Heyel seit 2005 auch gemeinsam üben. Der Rat an den Zuhörer: Wenn man das Stück nicht versteht, soll man es fühlen.

Der Text erschien in der Mittelbayerischen Zeitung:Wo sich der Zeichenvorrat erschöpft