Textbeitrag

Yousefs Schicksalsfrage

Woher kommt Familie Yousef? Aus Syrien, sagen die Yousefs. Aus Armenien, sagen die deutschen Behörden. Deren Indizien aber sind zweifelhaft. 

Es gibt zwei Geschichten vom Schicksal der Familie Yousef. Ihre eigene geht so: Sie sind Jesiden, in ihrer Heimat Syrien wurden sie vom Staat systematisch diskriminiert. Er verweigerte ihnen Pässe, Bildung, Grundrechte. Seit Ausbruch des Bürgerkrieges sind Jesiden, eine nicht muslimische Minderheit, in Syrien vom Tode bedroht.

Als der Krieg in Hörweite ihres Dorfes rückte, verkaufte Großvater Yousef seine 70 Schafe. Mit dem Geld bezahlte er einen Schlepper, der seinen Sohn Sabri, dessen Frau und ihre vier Kinder vom Nordosten Syriens nach Deutschland brachte, in einen Wald vor Erfurt. Von dort schickte man sie nach Berlin.

So beschreiben die Yousefs ihr Leben und ihre Flucht. Stimmt das, müssten die Yousefs gute Chancen auf Asyl in Deutschland haben. Doch wenn die deutschen Behörden über die Yousefs sprechen, klingt es, als gehe es um eine andere Familie aus einer ganz anderen Welt. Aus deren Sicht sind die Yousefs Wirtschaftsflüchtlinge, die sich Asyl erschummeln wollen. Sie geben nur vor, aus Syrien zu stammen. Mit „hoher Sicherheit“ kommen sie aus Armenien oder einem anderen GUS-Staat. Zu diesem Ergebnis kommt ein Sprachprüfer, den das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) beauftragt hat. Vor drei Wochen wurde der Asylantrag der Yousefs abgelehnt. Sie hätten „nach wie vor nicht glaubhaft gemacht, aus Syrien zu stammen“, steht in dem Bescheid.

300.000 Anträge auf Asyl, so schätzt das Bundesamt für Migration, werden dieses Jahr in Deutschland gestellt, 50 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Grund sind auch die Kriege in Syrien, der Ukraine und im Irak. Die Ausländerbehörden der einzelnen Bundesländer, die über die Anträge entscheiden, sind überfordert. Die Berliner Behörde kann seit April nicht mehr allen Antragstellern einen Termin geben. Außerdem stehen die Behördenmitarbeiter vor einer fast unlösbaren Aufgabe: Sie sollen feststellen, woher ein Asylbewerber wirklich kommt, ob er oder sie möglicherweise lügt. Davon hängt ab, ob die Bewerber ein Recht haben, in Deutschland Schutz zu finden.

Der Fall Yousef begann im Dezember 2013 mit einem Behördenfehler. In einem Schreiben informierte das Bamf die Familie über ihre Pflichten gegenüber dem deutschen Staat. Der Brief war auf Kurdisch verfasst, der Muttersprache der Yousefs. Doch die Familie kann nicht lesen und schreiben. Mündlich wird ihr laut Bamf mitgeteilt, dass sie sich bei einem Umzug ummelden muss. Als die Yousefs drei Monate später von der Erstaufnahmeeinrichtung in ein reguläres Flüchtlingswohnheim zogen, gingen sie zur Polizei, um sich umzumelden. Doch die Polizei gab die neue Adresse nicht an das Bamf weiter. Die Vorladung zur Asylanhörung wurde also nicht nachgesendet, die Yousefs ahnten nichts davon und fehlten unentschuldigt. Ihr Asylantrag wurde zum ersten Mal abgelehnt.

Die Interpretation der Sachbearbeiterin: Die Yousefs hätten Angst vor der Anhörung gehabt. Sie seien vorsätzlich nicht erschienen. Das sagt sie der ehrenamtlichen Helferin, die die Yousefs begleitet. Es ist dieselbe Sachbearbeiterin, die auch den Folgeantrag ablehnen wird. Die Yousefs haben zu dem Zeitpunkt keinen Anwalt. Ohne die Hilfe der Ehrenamtlichen wäre ihr Asylverfahren im Mai 2014 endgültig geschlossen worden.

Laut Pro Asyl enden Asylanträge häufig aufgrund nicht zugestellter Post. Selbst wenn der Asylsuchende daran keine Schuld trägt, muss er unverzüglich klagen oder einstweiligen Rechtsschutz beantragen, sonst erlischt sein Anrecht auf einen Folgeantrag.

Sabri Yousef hält den Bescheid in Händen, den er nicht lesen kann. Der amtlich feststellt, dass er lügt. „Wir kommen aus Syrien. Warum glaubt das Bamf uns nicht?“ Er fühlt sich ohnmächtig. Seiner Familie droht die Abschiebung.

In diesem Jahr haben bislang mehr als 5.000 jesidische Flüchtlinge in Deutschland Asyl beantragt. Der Großteil flüchtete aus dem Irak und aus Syrien. Diese Gruppen haben die besten Chancen, dass ihr Asylantrag genehmigt wird. Andere Jesiden kommen aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion, aus der Türkei oder Afghanistan. Sie werden häufiger abgelehnt.

Wenn das Bamf die Herkunft von Jesiden nicht eindeutig klären kann, gewährt es nur einem Teil von ihnen Asyl. In diesem Jahr wird es voraussichtlich 450 unklare Fälle geben; davon werden nach der aktuellen Quote wohl 300 Fälle abgelehnt. Für sie heißt das: kein Asyl, nur eine Duldung, eine Abschiebung ist jederzeit möglich. „Für Familien, die wie die Jesiden in ihrer Heimat verfolgt werden, ist das ein unzumutbarer Zustand“, sagt der grüne Bundestagsabgeordnete Omid Nouripour.

Der Fall der Yousefs zeigt, wie wenig das deutsche Asylsystem auf die Schutzbedürftigen eingestellt ist: auf Menschen, die ohne Pässe nicht nachweisen können, dass sie in ihrer Heimat zu einer bedrohten Gruppe gehören. Auf Analphabeten, die weder ihren eigenen Namen noch den ihres Dorfes schreiben können. Auf Menschen vom Land, die noch nie einen Widerspruch verfasst haben.

Die Yousefs haben in ihrem Dorf von Viehwirtschaft gelebt. Für sie ist das deutsche Asylsystem undurchsichtig. Den Eltern fällt es schwer, komplizierte Sachverhalte zu formulieren. Ihre Kinder, die hier zu Schule gehen, sind die ersten in der Familie, die lesen und schreiben lernen.

Wenn ein Asylbewerber keine Papiere hat, die seine Identität belegen können, muss er seine Herkunft anders glaubhaft machen. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Sprachprüfung. In Bezug auf die Yousefs hat der vom Bamf beauftragte Sprachprüfer festgestellt: Sie sprechen einen kurdischen Dialekt, der auch in einigen GUS-Staaten geläufig ist, und verstehen kein Arabisch. Für das Bamf ist das ein Beweis dafür, dass sie nicht aus Syrien stammen können.

Doch so einfach ist es nicht. Yilmaz Günay, stellvertretender Vorsitzender des Jesidischen Vereins Berlin, sagt, eine eindeutige Sprachprüfung könne es nicht geben: „Wir Jesiden sind immer vertrieben worden.“ Wegen des Genozids in Armenien 1915 seien viele armenische Jesiden nach Syrien gekommen. „Ich kenne Dörfer im Irak oder Syrien, in denen sich die Jesiden einen eigenen Dialekt bewahrt haben“, sagt Günay. Er hält es für wahrscheinlich, dass die Yousefs irgendwann aus Armenien in ihren Heimatort Gumar in Syrien nahe der irakisch-türkischen Grenze gekommen sind.

Die Yousefs erzählen ihre Familiengeschichte so: Der Urgroßvater stammt aus der armenisch geprägten türkischen Provinz Kars. In Syrien verbot der Großvater den Kindern dann, Arabisch zu lernen. Außerdem verwehre der syrische Staat Kurden und Jesiden das Schulrecht. Daher sei es nicht verwunderlich, dass in ihrem Kurdisch kaum arabische Einflüsse zu hören seien.

Die Qualifikation der Sprachprüfer in Asylverfahren sei in vielen Fällen nicht nachvollziehbar, kritisiert die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl. Die Ergebnisse ihrer Prüfung seien dann aber schwer anzufechten.

Das Bamf hingegen sieht keinen Anlass, am Gutachten des Sprachprüfers zu zweifeln: „Es ist davon auszugehen, dass der – über die allgemeine Qualifikation hinausgehend – zudem aus Syrien (nicht weit entfernt vom behaupteten Herkunftsort der Antragsteller) stammende Sprachgutachter sachkundig ist, um eine entsprechende Begutachtung sachkundig vorzunehmen“, stellt es fest. Auf Anfrage weist das Bamf den Sprachgutachter als Experten für Iranistik aus. Ob Kurdisch seine Muttersprache ist, kann das Amt nicht sagen.
Dass der Sprachprüfer die Familie trifft, ist nicht vorgesehen

Der Sprachprüfer hat die Familie Yousef nicht persönlich getroffen, das ist auch nicht vorgesehen. Die Sachbearbeiterin zeichnete für den Prüfer ein Gespräch mit den Yousefs auf, das sie mithilfe eines Dolmetschers führten. Während dieses Gesprächs hörte die Sachbearbeiterin etwas, das sie für das russischen Wort spasibo, danke, hielt und wertete dies als Indiz dafür, dass die Yousefs aus einem GUS-Staat kämen. Gesagt wurde aber das kurdische Danke, sipas. So erzählt es die ehrenamtliche Helferin, die bei dem Gespräch dabei war. Die Sachbearbeiterin äußert sich nicht zu dem Missverständnis. Das Bamf erklärt dazu: „Es ist korrekt, dass es zu dieser Verwechslung gekommen ist. Auf die Entscheidung hatte sie aber keinen Einfluss.“

Als das Bamf den zweiten Asylantrag der Yousefs ablehnt, liest sich der Bescheid wie ein Betrugsvorwurf. Neben der Sprachprüfung wird aufgeführt, die Yousefs hätten ihren Herkunftsort auf einer Syrienkarte nahe der irakischen Grenze eingezeichnet. Tatsächlich liege der Ort Gumar nicht am eingezeichneten Ort, bemerkt das Bamf, sondern 25 Kilometer nördlich der Stadt Hassake. Allerdings liegt Hassake 50 Kilometer von der Grenze zum Irak entfernt und damit durchaus noch in Grenznähe. „Absurd“, urteilt Günay, „das bestätigt doch eher ihre Ortskenntnis.“

Der Anwalt Mersad Smajić vertritt die Yousefs inzwischen im Asylfolgeverfahren, er hat gegen die Entscheidung des Bamf Klage eingereicht. Gibt ihm das Verwaltungsgericht Berlin recht, muss der Fall Yousef erneut geprüft werden. Solange die Ausländerbehörde nicht sicher weiß, aus welchem Land die Yousefs stammen, wird der deutsche Staat sie wohl dulden. Doch die Abschiebung bleibt eine ständige Drohung.

Seit mehr als einem Jahr teilen sich die sechs Familienmitglieder ein Zimmer in der zweitgrößten Flüchtlingsunterkunft Berlins, einem Gebäude der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik im Stadtteil Reinickendorf. Die Stimmung dort ist angespannt. In der Zeit des Wartens sei Sabri Yousef sichtbar gealtert, erzählen seine Freunde. Die Wände sind dünn, er schläft schlecht und wünscht sich eine Beschäftigung.

Sabri und Seni Yousef sind dennoch dankbar, in Deutschland zu sein, ohne Todesangst. Eine Angst, die deutsche Behörden für gespielt halten.