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Auf den Olymp

Jutas Foldvari will mit dem Mountainbike auf den höchsten Berg Griechenlands. Bei der Abfahrt riskiert er sein Leben – und  den Zorn seiner Freundin.

Jutas Foldvari bringt seine beiden Töchter ins Bett, packt sein weißes Mountainbike, Rucksack, Helm und vier Dosen Energy Drink in seinen Ford Kombi. Um ein Uhr nachts steigt er ins Auto und verlässt den Athener Stadtteil Dionisos Richtung Norden. Foldvari stellt sich auf eine schlaflose Nacht ein. Bis zur Mitternacht des übernächsten Tages hat er Zeit, sein Ziel zu erreichen. So ist der Deal mit seiner Freundin.

Foldvari biegt auf die Autobahn nach Thessaloniki, stellt das Radio an und entspannt sich. Vor ihm liegen 400 Kilometer bis zum Örtchen Litóchoro, den Ausgangspunkt seiner geplanten Gipfeltour. Foldvari denkt an die tiefen Gumpen der Enipeas-Schlucht, den sagenhaften Gipfelblick über die griechische Ostküste. Sofort kehren die Bilder des vergangenen Sommers zurück, als Foldvari den höchsten Berg Griechenlands zum ersten Mal erklommen hat, den Olymp.

Perfekt für das Mountainbike, erkannte Foldvari damals, als er die steilen  Geröllhänge abstieg. Die Idee hat den 33-jährigen Hobbysportler nicht mehr losgelassen: Den 2918 Meter hohen Olymp mit dem Rad zu besteigen und anschließend bis zum Meer abzufahren. Für Foldvari, der die Natur liebt,aber auch den Nervenkitzel der Geschwindigkeit, eine gelungene Kombination:„Ich brauche beides, um den Kopf frei zu kriegen.“ Jetzt endlich ist es so weit. Mit dem Mountainbike auf den Olymp. Ist Mitte Mai, wenn die höchsten Gipfel noch verschneit sind, wirklich der richtige Zeitpunkt dafür? Foldvari ahnt, dass er mit dieser Tour an seine physischen Grenzen gehen wird.

Nach zwei Stunden Fahrt öffnet Foldvari die erste Dose Energy Drink und dreht die irische Folkmusik lauter. „Das Lieblingslied meiner ältesten Tochter“, sagt Foldvari. „Sie liebt Banjo“. Foldvari erinnert sich, wie er seiner Tochter zum Abschied einen Kuss auf die Stirn gab und sie zudeckte.„Papa, wann kommst du wieder?“ „Bald, mein Stern.“ In diesem Moment hätte Jutas Foldvari seine Tour beinahe noch abgeblasen. So eigensinnig erschien ihn plötzlich sein Vorhaben: Er sucht die sportliche Herausforderung,während seine Freundin das Wochenende allein mit den beiden Kleinkindern verbringt. Von seiner Freundin spricht Foldvari kaum. Vielleicht, weil sich Foldvari dann eingestehen müsste, dass er auch ein bisschen wegen ihr davongefahren ist. Dass er vor seiner Beziehung flüchtet, bis auf den Olymp. 

Mit den ersten Sonnenstrahlen stoppt Jutas Foldvari seinen Wagen auf demParkplatz „Prionia“, 18 Kilometer hinter dem Ort Litóchoro. Sieben Stundenist Foldvari Auto gefahren, die ganze Nacht. Er ist übermüdet, versucht zu schlafen. Aber er ist zu aufgeregt. Er holt das Mountainbike aus dem Kofferraum, streift sich ein Sporthemd über, setzt seinen Rucksack und den Helm auf. Die leeren Energy Drink-Dosen wirft er in den Kofferraum. Sein Smartphone lässt er im Wagen zurück. Jutas Foldvari steigt auf das Rad und fährt den Weg zur Schutzhütte„Spilios Agapitos“ hoch, über Wurzel, Steine und herbstbraune Piniennadeln,immer in Hörweite des Enipeas. Rauschend gräbt sich der Bergbach in denKalkfelsen. Am Hang gegenüber hängen Schneearme tief herab.

Je höher Jutas Foldvari steigt, desto sehnlicher wird sein Wunsch, ihn endlich zu sehen,den Wolken verhangenen Olymp. Auf der Schutzhütte stellt Foldvari sein Mountainbike an das Geländer auf der Terrasse. Die anwesenden Bergsteiger mustern ihn mit neugierigenBlicken. „Verrückt“, sagt ein braungebrannter Grieche, als er von Foldvaris Vorhaben erfährt. Sein Begleiter hebt das Rad prüfend in die Höhe. „16, 17Kilo“, sagt er anerkennend. Ein Deutscher wirft ein, man könnte es auch mit Motorrad bis zum Gipfel schaffen. „Vielleicht“, sagt Foldvari höflich.Etwas abseits sitzt ein Mulitreiber im Schatten des Ziegeldachs. Vor ihm auf dem Tisch steht ein Glas Ouzo verdünnt mit Wasser. Er sagt: „Der Bergist heilig. Da haben Räder nichts verloren.“ 

Am Nachmittag beginnt es zu schneien. In dem Schlafsaal, in dem sich Jutas Foldvari ausruht, ist es kalt. Auf der Schutzhütte gibt es keine Heizung. Nur in den Gemeinschaftsräumen brennen Kaminfeuer. „Das Mountainbike ist ein Spielzeug für große Jungs“, sagt Jutas Foldvari,die Hände am Kamin wärmend. Dass sein Spielzeug am Berg verboten ist, hat Foldvari soeben von der Hüttenwirtin erfahren. „Seltsam“ wundert sich Foldvari. Am Parkplatz hat er kein Verbotsschild gesehen, das auf Fahrräder hingewiesen hätte. An Umkehren denkt Foldvari nicht. Nur das Wetter könnte ihn zwingen umzukehren. Wegen des vielen Neuschnees mussten die Bergsteiger an diesem Tag umdrehen. In der Nacht über soll es weiter schneien. Foldvari zuckt mit den Achseln. Er wird nicht aufgeben. 

Mehr Bilder vom Jutas Foldvaris Tour auf den Olymp: in der Galerie.

Am Morgen liegt Eis auf den Tischen vor der Hütte. Von der Terrasse erstreckt sich azurblau der Thermische Golf, eingerahmt von der Bucht von Thessaloniki. Jutas Foldvari wendet sich seinem Mountainbike zu, das am Geländer lehnt. Wegen der Eisglätte auf dem Gipfel will er mit dem Aufstieg warten. Foldvari hat Zeit, den Luftdruck des Kolbens nachzujustieren, der die Stöße bei der Abfahrt dämpfen soll. „Ich bin noch nie mit zehn Kilogramm Gepäck gefahren“, sagt Foldvari. Es ist das erste Mal, dass Foldvari sich mit dem Mountainbike an so eine Tour wagt. Wenn die Olymp-Abfahrt gelingt, will Foldvari bei dem wohl anspruchsvollsten Downhill-Rennen für Mountainbiker am Gletscher Montblanc teilnehmen, dem „Megavalanche“.

„Jeder kann das, wenn er Spaß dabei hat“, sagt Foldvari. Durch verschneite Winterlandschaften schiebt Jutas Foldvari Zug um Zug ein Mountainbike den Berg hinauf: Vorstoßen, Bremse ziehen, wieder vorstoßen,wieder Bremse ziehen. Ein paar griechische Bergsteiger überholen. Einer von ihnen will sich mit dem Fahrrad fotografieren lasen. Dafür nimmt er Foldvari die Last ein paar Minuten ab. Der freut sich und sagt: „Jetzt hab ich schon eigene Scherpas.“ Auf 2.600 Metern geht es nicht mehr um die Frage, ob ein Mountainbike aufden Olymp verwerflich ist. Hier zählt die Kameradschaft am Berg, dasgemeinsam Erlebte, die gegenseitige Hilfe. Auf dem Olymp gibt es vieleS chutzengel, heißt es in den Cafés in Litóchoro, in denen sich faltige Männer Berggeschichten erzählen.

Die letzte Etappe: Eine steile Flanke, auf der bläuliche Eisstellen unter dem Neuschnee schimmern. Für diese Stellen braucht man Steigeisen, um sicheren Halt zu finden. Weder Jutas Foldvari noch ein anderer Bergsteiger hat welche dabei. Viele drehen hier um. Nur vier Bergsteiger gehen weiter,einer mit seinem Mountainbike. Die letzten Meter sind heikel. Wer ausrutscht, stürzt vielleicht in den Tod. Dann ist es geschafft. Jutas Foldvari stellt sein Mountainbike auf 2866 Metern Höhe in den Schnee.  An ein Weitergehen auf den allerhöchsten Gipfel Mytikas ist nicht zu denken. Jutas Foldvari stört das nicht. Vermutlich hat vor ihm noch niemand ein Mountainbike auf den verschneiten Olymp getragen. Foldari blickt herab auf die umliegenden Berge. Alles ist still. Am Himmel keine Wolke. „Wie klein wir Menschen hier oben sind, wie Ameisen“, murmelt Foldvari. Dann macht er ein Foto von seinem Mountainbike im Schnee. „Für meine Töchter“, sagt Foldvari und steigt aufs Rad. 

Es ist Nacht geworden am Fuß des Olymp. Auf dem Parkplatz vor dem Kombi liegt das Mountainbike im Kies. Jutas Foldvari sitzt danaben, atemlos. „Ich bin an meine Grenzen gekommen“, sagt er. 2.800 Höhenmeter ist erabgefahren, über Schneehänge und steile Geröllfelder. Dann durch die Enipeas-Schlucht, wo er oft absteigen und sein Rad tragen musste. Und schließlich wieder zurück zum Parkplatz, auf dem er sich jetzt ausruht. Als Foldvari ins Auto steigt, genügt ihm ein Blick auf sein Smartphone, umzu wissen, dass seine Freundin zornig ist. Das Display zeigt ihre Nummeran. Mehrmals hat sie versucht, ihn zu erreichen. Foldvari legt das Telefonweg. „Ich hätte sie heute mittag anrufen sollen“. Jetzt ist es dunkel. Selbst wenn Foldvari sofort aufbricht und ohne Pausen nach Athen fährt –bis Mitternacht, wie vereinbart, schafft es Foldvari nicht zurück. 

Foldvari wäscht sich an einem Brunnen, zieht frische Kleidung an und packt Mountainbike, Rucksack und Helm ins Auto. Um vier Uhr in der Nacht könne er in Athen sein, schätzt Foldvari. „Hauptsache, ich bin morgen früh wiederzurück. Ich habe meinen Töchtern versprochen, dass wir zusammenfrühstücken“.

Der Text erschien im Reportage-Magazin „Einsichten15“: Auf den Olymp