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Kirchners Reich droht zu zerfallen

Der ungeklärte Tod eines Staatsanwalts rüttelt die argentinische Gesellschaft auf, Zehntausende demonstrieren. Für die Präsidentin wird die Affäre zunehmend gefährlich.

Es ist ein taktloser Witz, der dieser Tage von den Anhängern der argentinischen Staatspräsidentin Cristina Kirchner verbreitet wird: Nachdem die Staatsanwaltschaft Kirchner seit Freitag formell beschuldigt, die iranischen Drahtzieher des Anschlags auf eine jüdische Wohlfahrtsorganisation im Jahr 1994 zu decken, verbreitete sich auf Twitter ein Foto, auf dem der Papst im Gespräch mit der iranischen Vizepräsidentin zu sehen ist.

„Wird Franziskus jetzt auch von der argentinischen Justiz angeklagt?“, steht darüber. Der zynische Humor: Kirchner werde eine kriminelle Nähe zum Iran unterstellt, weil sie wie ihr Landsmann im Vatikan den Dialog mit Teheran suche. In den Augen ihrer Anhänger ist die Präsidentin Opfer der Justiz – wieder mal.

Besondere Brisanz erhalten die Vorwürfe gegen Kirchner jedoch, weil der Staatsanwalt Alberto Nisman vor einem Monat auf mysteriöse Weise gestorben ist. Nisman suchte seit Jahren Beweise dafür, dass die argentinische Regierung acht Verdächtige aus dem Iran decken will, die die argentinische Justiz für den Tod von 85 Menschen verantwortlich macht. Nisman brachte schon den damaligen Präsidenten Carlos Menem vor Gericht, weil er die Ermittlungen zum Anschlag auf das jüdische Zentrum Amia in Buenos Aires behinderte. Nun wollte er auch Beweise gesammelt haben, die Kirchner, Außenminister Timerman und weitere Regierungsmitglieder belasteten. Vier Tage vor seinem Tod verriet Nisman erste Details in der Fernsehsendung TN, die stichhaltig schienen.

Musste Nisman sterben, weil er einen Wirtschaftsdeal seiner Regierung mit Teheran aufgedeckt hatte, der die Präsidentin zu Fall bringen könnte? Das glaubt Umfragen zufolge die Mehrheit der Argentinier.

Zum Gedenken an Staatsanwalt Nisman marschierten am Mittwochabend, einen Monat nach dessen Tod, Zehntausende schweigend vom Parlamentsgebäude bis zum Regierungspalast. Sie trugen Plakate, auf denen „Wir sind alle Nisman“ oder „Wahrheit und Gerechtigkeit“ standen. Viele der Teilnehmer reklamierten zwischen der Stille und dem Regen: „Justicia“ – Gerechtigkeit. Die Forderung gilt Präsidentin Kirchner, die den Marsch von Beginn an als politischen Akt gegen ihre Regierung wertete. Oppositionspolitiker wiesen den Vorwurf zurück, sie wollten Profit aus dem Gedenkmarsch ziehen: „Wir wollen keine politischen Staatsanwälte. Wir wollen, dass Staatsanwälte ohne Angst vor der Politik arbeiten können“, entgegnete Sergio Massa, einst Kabinettschef unter Kirchner, heute ein scharfer Kritiker der Regierung.

Über mehrere Kabinettsmitglieder ließ Kirchner in den vergangenen Tagen verbreiten, die fünf Staatsanwälte, die zum Gedenkmarsch aufgerufen hatten, wollten sie mithilfe der Opposition stürzen. „Heute putscht nicht mehr das Militär, sondern ein Konglomerat aus Medien, Staatsanwälten und Richtern“, erklärte der aktuelle Kabinettschef Jorge Capitanich Stunden vor dem Marsch während einer Pressekonferenz im Regierungspalast. Gegen Capitanich und zwei weitere Minister wird ebenfalls seit Freitag ermittelt. Die Staatsanwaltschaft hält sie verantwortlich für den Tod eines tuberkulosekranken Kindes. Es verhungerte in einem öffentlichen Krankenhaus. Die Anzeige bekräftige seine Überzeugung, so Capitanich, dass ein Teil der Justiz am Komplott gegen die Regierung mitwirke. Vor zwei Wochen zerriss der Kabinettschef vor laufender Kamera eine Ausgabe der Zeitung Clarín, dem langjährigen Lieblingsfeind der Kirchners.

Dass die Regierung den Gedenkmarsch politisiert, stößt vielfach auf Unverständnis. „Der Regierung fehlt jegliche Empathie für ihre Bürger“, bemerkt der Kolumnist Alejandro Katz in der konservativen Tageszeitung La Nación. „Wer heute auf die Straße geht, ist nicht automatisch gegen die Regierung, sondern lehnt die sinnlose Gewalt ab, die längst unsere politische Rhetorik beherrscht.“

Die Präsidentin blieb dem Gedenkmarsch fern. Stattdessen ließ sie sich 115 Kilometer von der Hauptstadt entfernt für die Verdienste ihres politischen Projektes, dem Kirchnerismo, feiern – mit Musik für ihre Anhänger und 30.000 Empanadas, den landestypischen Teigtaschen. Die volle Auslastung des Kernkraftwerkes Atucha II Presidente Néstor Kirchner, das vergangenes Jahr ans Netz ging, nahm Kirchner zum Anlass, das komplette Kabinett, Gouverneure der Peronistischen Partei und Tausende Anhänger hinter sich zu scharen. In ihrer im Fernsehen übertragenen Festansprache erwähnte Kirchner weder den Tod Nismans noch den unmittelbar bevorstehenden Gedenkmarsch.

Wie man die Motive der fünf Staatsanwälte und die Haltung der Regierung auch bewertet, der Opposition spielt der Grabenkampf in die Hände. Im August entscheiden landesweite Vorwahlen, welche Politiker zur Präsidentschaftswahl im Herbst antreten dürfen. Cristina Kirchner darf nach zwei Amtszeiten in Folge nicht erneut kandidieren. Der Kirchnerismo scheint nach zwölf Jahren an der Macht in der Bevölkerung diskreditiert. Eine Preissteigerung von 30 Prozent in den vergangenen zwölf Monaten, Subventionskürzungen für Strom, Wasser und öffentliche Transportmittel sowie die gefühlte Unsicherheit haben allein im vergangenen Jahr zu knapp 2.000 Protestaktionen im Großraum Buenos Aires geführt, wie eine argentinische Nichtregierungsorganisation dokumentiert.

„Das Reich der Kirchners zerfällt“, urteilt der spanische Historiker und Kolumnist Miguel Ángel Bastenier. Bis vor Kurzem schien es das glaubhafteste Szenario, dass die Präsidentin das Zepter nach dieser Amtszeit nur für vier Jahre an einen Verwalter aus der Peronistischen Partei abgeben würde, um 2019 ein drittes Mal auf den Thron zu steigen. Doch die sechs Kampfkandidaten der Präsidentin sind in Umfragen abgeschlagen: Ihr bestplatzierter Vertrauter würde nach einer Umfrage des Meinungsforschers Carlos Fara gerade mal 5,8 Prozent der Stimmen erhalten.

Je länger die Causa Nisman der Regierung schadet, glaubt Historiker Bastenier, desto weniger wollen sich die aussichtsreichen Kandidaten für eine spätere Rückkehr Kirchners einspannen lassen.

Der frühere Kabinettschef Sergio Massa gilt als aussichtsreichster Präsidentschaftskandidat. Ein Drittel der Argentinier würden ihn derzeit zum Präsidenten wählen. Massa tritt bei den Vorwahlen mit einem eigenen Parteibündnis, dem Frente Renovador an. Mit der Teilnahme am Gedenkmarsch für Nisman bekräftigte Massa seine Distanz zur Regierung. Dass er dabei moderat bleibt, macht ihn auch für die Wähler interessant, denen sein größter Konkurrent, der Unternehmer Mauricio Macri von PRO, zu konservativ ist.

Cristina Kirchner wird sich mit einem anderen früheren Vertrauten gut stellen müssen, um nicht in die Opposition wechseln zu müssen: Daniel Scioli, Gouverneur der Provinz von Buenos Aires, wird wahrscheinlich für das Regierungsbündnis Frente para la Victoria antreten. Doch die Nähe zu Kirchner schlägt sich in seiner Beliebtheit nieder. Seit Nismans Tod ist Scioli in den Umfragen auf den dritten Rang hinter Massa und Macri abgerutscht.

Das einzige, was Cristina Kirchner politisch retten könnte, wäre ein Wort des Papstes, der als Argentinier in dem südamerikanischen Land besonderen Einfluss hat. Doch Franziskus hat sich bisher nicht in den Konflikt eingemischt. An dem Tag, an dem Zehntausende Argentinier nach Gerechtigkeit schreien und sich die Präsidentin stumm stellt, empfängt Franziskus stattdessen die Angehörigen der Opfer des Anschlags auf das jüdische Zentrum. Sie warten seit nunmehr 20 Jahren auf Gerechtigkeit.