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Angst vor „Argenzuela“

Eine rasende Inflation und 500 Streiks in einem Monat: Argentinien fürchtet sich vor einer politischen Krise wie in Venezuela.

In welchem Land der Welt würden Gewerkschafter eine Gehaltserhöhung von 31 Prozent ablehnen, auch wenn sie stufenweise erfolgen soll? So viel hatte die argentinische Regierung den Lehrern im Land zuletzt geboten, um einen angedrohten 72-Stunden-Streik zu verhindern. Vergeblich. Seit Mittwoch fällt für rund sechs Millionen Kinder und Jugendliche in Argentinien die Schule aus.

Das Regierungsangebot bezeichnen die fünf Lehrergewerkschaften als „inakzeptabel“. Sie fordern zwischen 42 und 61 Prozent mehr Lohn. „Das Angebot der Regierung wäre gut, wenn Argentinien Deutschland wäre“, schreibt Joaquín Morales Solá, Kolumnist der  Tageszeitung La Nación und bekannter Regierungskritiker. „Der Unterschied ist, dass man hier nicht weiß, wie stark die Inflation in den nächsten 60 Tagen steigt.“

Tagtäglich bekommen die Argentinier derzeit zu spüren, wie schnell der Peso an Wert verliert. Im Januar sind die Lebensmittelpreise in der Hauptstadt Buenos Aires so stark gestiegen wie zuletzt vor 14 Jahren, um über fünf Prozentpunkte. Die Regierung musste den Supermärkten für 193 Produkte „eingefrorene“ Preise verordnen. Die Tickets für U-Bahn und Stadtbusse in Buenos Aires haben sich in den vergangenen zwei Jahren verfünffacht. Und in vielen Läden in der Hauptstadt sieht man schon keine Preisschilder mehr.

Sieben Jahre lang hat die Regierung die hohe Inflation bestritten und geschönte Statistiken veröffentlicht. Die Forderungen der Lehrer sind daher ein guter Maßstab dafür, wie die Inflation von derzeit 30 Prozent die Löhne entwertet. Da klingt es für viele Argentinier wie Hohn, dass ihre Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner das Thema totschweigt. Vor einer Woche eröffnete Kirchner feierlich die neue Sitzungssaison des Parlamentes. Drei Stunden lang skizzierte sie vor Abgeordneten und Senatoren die Erfolge ihrer Regierung. Der Verfall des Geldwerts kam darin nicht vor.

Argentinien hat die zweithöchste Inflationsrate des Kontinentes. Nur in Venezuela liegt sie höher. Das lässt befürchten, Argentinien könnte in eine ähnlich schwere politische Krise stürzen wie derzeit Venezuela, mit landesweiten Protesten, ausufernder Polizeigewalt, Toten und zwei politischen Lagern, die sich unversöhnlich gegenüber stehen. Ihrer Angst vor venezolanischen Verhältnissen haben argentinische Social-Media-Nutzer auch schon einen Namen gegeben:#argenzuela.

Erst im Dezember Tote und Plünderungen

Bislang sind die Lehrerstreiks friedlich verlaufen. Doch wie berechtigt die Ängste vor einer Eskalation sind, haben die Argentinier im Dezember erlebt, als das Land gerade die Rückkehr zur Demokratie vor 30 Jahren feierte. Während die Regierung in der Hauptstadt Lobesworte für den Friedenswillen der Argentinier fand, wurden in der zweitgrößten Stadt des Landes, Córdoba, Supermärkte und Geschäfte geplündert. Die Polizisten gingen dort nicht mehr auf Streife, um so ihren Forderungen nach einem doppelt so hohen Lohn Nachdruck zu verleihen.

Nach den ersten zwei Toten ging der Provinz-Gouverneur José Manual de la Sota auf alle Forderungen der Polizisten ein. Damit begann eine Erpressungsrunde durch fast alle Provinzen. Überall hat die Polizei ihre Forderungen durchgesetzt. Für die Plünderungen und die insgesamt neun Toten hat sie keiner verantwortlich gemacht.

5.000 Streiks in einem Jahr

Das soziale Konfliktpotenzial in Argentinien ist enorm, und die andauernde Inflation ist ein Grund dafür. Die andere ist die steigende Armut, die selbst die traditionell regierungsnahe Gewerkschaft CGT (Confederación General del Trabajo de la República Argentina) anprangert. Über zwölf Millionen Argentinierleben nach der aktuellen CGT-Studie unterhalb der Armutsgrenze. Das ist jeder Vierte. Allein im Januar sollen 500.000 Personen unter die Armutsgrenze gerutscht sein.

Im Februar kam es landesweit zu 519 Straßenblockaden („piquetes“), die traditionelle Protestform der Gewerkschaften. Mit brennenden Reifen legten sie den Hauptstadtverkehr oder die wichtigen LKW-Routen lahm, auf denen die Exportprodukte Soja, Weizen oder Mais zum Hafen nach Buenos Aires transportiert werden. Im vergangenen Jahr zählten Forscher insgesamt 5.767 Blockaden. Die Opposition behauptet, dass die Stadt Buenos Aires dadurch umgerechnet 43 Millionen Euro an Einnahmen verlor.

Nun steht dem Land möglicherweise eine weitere, noch größere Streikwelle bevor: Sollten die Lehrer ihre hohen Lohnforderungen durchsetzen, würden andere Gewerkschaften dasselbe fordern, schätzten Beobachter. Davor fürchtet sich die Regierung, die in den vergangenen drei Jahren die Hälfte der Zentralbankreserven für Schuldendienste, Energieimporte und Stützkäufe ausgegeben hat, um den Argentinischen Peso zu stabilisieren. Bereits vor zwei Jahren sah sich die Regierung gezwungen, den uneingeschränkten Kauf ausländischer Devisen zu verbieten. Zu viele Argentinier hatten ihre Peso in US-Dollar getauscht. Seitdem es die „Fußfessel“ (Cepo) gibt, ist der Tauschkurs auf dem Schwarzmarkt in die Höhe gesprungen. 

Um die Haushaltskassen zu sanieren, hat Kabinettschef Jorge Capitanovich schon angekündigt, die staatlichen Subventionen für Strom- und Transportpreise zu kürzen. Eine Zusatzsteuer von 35 Prozent auf Käufe von Bürgern und Unternehmern im Internet soll wieder Geld in die Staatskassen bringen – und die heimische Wirtschaft stärken.

Letztes Regierungsjahr für Fernández 

Der Gewerkschaftsdachverband Central de Trabajadores de la Argentina (CTA) rief für kommende Woche zum Generalstreik auf. An den Ergebnissen des Lehrerstreiks werden die eigenen Forderungen abgesteckt.

Argentinien ist müde geworden von einer Regierung, die die sozialen Konflikte nicht befrieden und die Entwertung des Geldes nicht aufhalten kann. Bei den vergangenen Parlamentswahlen im Oktober hat die regierende „Frente para la Victoria“ (FPV) eine Schlappe in allen wichtigen Provinzen hinnehmen müssen, unter anderem in der Stadt Buenos Aires, in der erneut die Oppositionspartei PRO gewann, und in der gleichnamigen bevölkerungsreichen Provinz. Dort gewann ein früherer Mitstreiter der Präsidentin, Sergio Massa, der jetzt als aussichtsreichster Kandidat für Präsidentschaftswahlen 2015 gilt.

Bis dahin muss Fernández, die bereits zweimal amtierte und nicht erneut antreten darf, das Erbe des Kirchnerismus verteidigen. Aber auch sie scheint müde geworden zu sein, mit den sozialen Gruppen streiten zu müssen. Nach einer längeren Auszeit im fernen Patagonien musste Fernández Gerüchte über ihre schlechte Gesundheit entkräften. Und als sich vergangene Woche der Lehrerstreik abzeichnete, klagte Fernández vor dem Parlament: „Es kann nicht sein, dass der Schulbeginn jedes Jahr von Gehaltsdebatten torpediert wird. Oft fühlt man sich wie eine Geisel, weil die Kinder ja zur Schule gehen müssen.“

Die Gehälter der Lehrer zählen mit umgerechnet 315 Euro im Monat zu den niedrigsten des Landes. LKW-Fahrer und Polizisten verdienen drei- bis viermal so viel. Die Regierung verurteilt die Streiks dennoch als „Gewaltmittel“. Für die bevorstehenden Generalstreiks hat die Regierung vorsorglich schon mal die Anzahl der Polizeikräfte im Großraum Buenos Aires verstärkt. Bezahlt werden sie jetzt ja besser.