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„Völkerrecht ist die Waffe der Schwachen“

Russlands Einmarsch auf der Krim ist völkerrechtswidrig, sagt Völkerrechtler Stefan Talmon. Militärischen Beistand bekommt die Ukraine deshalb noch lange nicht.

ZEIT ONLINE: Im Konflikt mit der Ukraine argumentiert Russland, ähnlich wie schon 2008 beim Einmarsch in Georgien, die russischstämmige Bevölkerung schützen zu wollen. Ist der Einsatz russischer Truppen auf der Krim völkerrechtlich legitim?

Stefan Talmon: Im Völkerrecht ist die militärische Intervention zum Schutz bestimmter Bevölkerungsgruppen nicht anerkannt. Bisher wurde auf der Krim auch noch gar kein Übergriff auf die russische Minderheit dokumentiert. Im Vergleich dazu gab es vor dem russischen Einmarsch in Georgien 2008 immerhin eine Gewaltanwendung gegen die russischstämmige Bevölkerung in den Provinzen Südossetien und Abchasien. Aber selbst wenn dies heute auf der Krim der Fall wäre, wäre es völkerrechtlich unzulässig, dass sich ein Land aus humanitären Gründen zur Schutzmacht einer Bevölkerungsgruppe in einem anderen Land aufschwingt. Wenn selbst bei Völkermord und schwersten Menschenrechtsverletzungen die humanitäre Intervention völkerrechtlich nicht allgemein anerkannt ist, dann erst recht nicht, wenn es wie jetzt auf der Krim zu keinerlei Übergriffen kommt.

ZEIT ONLINE: Hat die ukrainische Regierung also recht, wenn sie Russland vorwirft, mit der Besetzung der Krim das Völkerrecht gebrochen zu haben?

Talmon: Was Russland derzeit macht, stellt aus mehreren Gründen einen Völkerrechtsverstoß dar. Zum einen, weil Russland das bilaterale Stationierungsabkommen mit der Ukraine verletzt. Zum anderen, weil es bewaffnete Einheiten – entweder reguläre Streitkräfte oder irreguläre bewaffnete Gruppen –  über die Grenze gesandt hat. Das stellt sowohl einen Verstoß gegen die territoriale Integrität als auch gegen die politische Unabhängigkeit der Ukraine dar, wie sie in Artikel 2 Absatz 4 der UN-Charta garantiert wird.

ZEIT ONLINE: Ist das, was Russland derzeit auf der Krim tut, nach UN-Recht ein bewaffneter Angriff?

Talmon: Das ist eine strittigere Frage. Die UN-Charta unterscheidet zwischen dem Gewaltverbot (Artikel 2 Nummer 4) und dem Recht auf Selbstverteidigung nach einem bewaffneten Angriff (Artikel 51). Das Gewaltverbot ist so weit formuliert, dass Russland klar dagegen verstoßen hat. Der Terminus „bewaffneter Angriff“ wird jedoch sehr restriktiv verwendet. Nach einem Urteil des Internationalen Gerichtshofs stellt ein bloßer Grenzzwischenfall zwischen zwei Ländern noch keinen bewaffneten Angriff dar. Andererseits haben die Vereinten Nationen 1974 in ihrer Aggressionsdefinition erklärt, dass es sich auch dann um Aggression handelt, wenn sich die Streitkräfte eines Staates, die sich mit Zustimmung eines anderen Staates in dessen Hoheitsgebiet  befinden, stationierungswidrig verhalten, also anders als im Stationierungsvertrag geregelt.

ZEIT ONLINE: Worin genau besteht die Aggression russischer Truppen?

Talmon: Zum Beispiel die Besetzung wichtiger Kommunikations- und Infrastruktureinrichtungen sowie die Blockade ukrainischer Hafen- und Militäreinrichtungen. Bei der Aggression handelt es sich um eine besonders schwere Verletzung des Gewaltverbotes, die unter Umständen auch einen bewaffneten Angriff darstellen kann. Da das stationierungswidrige Verhalten der russischen Truppen nicht nur bedeutend ist, sondern einer militärischen Invasion und Besetzung der Halbinsel Krim gleichkommt, kann man durchaus von einem „bewaffneten Angriff“ sprechen.

ZEIT ONLINE: Was hat die Ukraine davon, dass sie das Recht auf ihrer Seite hat?

Talmon: Geht man von einem bewaffneten Angriff aus, dann hat die Ukraine damit das Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung. Dieses Recht umfasst auch die Möglichkeit, andere Staaten um militärische Unterstützung zu bitten. Die Ukraine hat bereits die Nato um Hilfe gebeten, ebenso könnte sie jeden beliebigen Einzelstaat um militärische Hilfe bitten. Ob ein Staat einem anderen Staat zur Hilfe kommt, steht jedoch in dessen Ermessen. Rechtlich könnte die ukrainische Regierung also auch die USA bitten, Kampfflugzeuge in ihr Territorium zu verlegen, auch wenn das politisch kaum Sinn macht.

ZEIT ONLINE: Der Nato-Bündnisfall stellt sich ja erst, wenn sich der Konflikt auf Nachbarn wie etwa Polen ausweitet, die gleichzeitig Nato-Mitgliedsstaaten sind. Werden die Nato oder ein Nato-Mitgliedstaat der Ukraine auch freiwillig beistehen?

Talmon: Ich glaube nicht, dass sich die Nato oder ein Einzelstaat auf ein militärisches Engagement in der Ukraine einlassen werden. Die politischen Akteure müssen sich die Frage stellen, ob es derzeit sinnvoll und zielführend ist, überhaupt von Aggression und Recht auf kollektive Selbstverteidigung zu sprechen. Rechtlich kann die Ukraine Russland natürlich einen Aggressor nennen, aber die internationale Gemeinschaft wird, wenn sie sich dieser Wortwahl anschließt, nur Öl ins Feuer gießen. Welchen Nutzen hat es, Russland öffentlich als Aggressor zu bezeichnen, wenn der politische Wille fehlt, entschieden, das heißt auch militärisch auf die Aggression zu antworten? Letztlich muss der internationalen Gemeinschaft daran gelegen sein, mit Russland im Gespräch zu bleiben, um den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine mit friedlichen Mitteln beizulegen.

ZEIT ONLINE: Wenn niemand Russland zur Rechenschaft ziehen will: Was bringt dann die völkerrechtliche Verurteilung?

Talmon: Das Völkerrecht ist die Waffe der Schwachen, die sich militärisch nicht wehren können. Die Herausstellung des Völkerrechtsverstoßes und dessen Anerkennung durch die internationale Gemeinschaft ermöglicht es ihnen, dem Aggressor mit rechtlichen Mitteln gleichberechtigt entgegenzutreten. Meine ukrainischen Kollegen versuchen derzeit, völkerrechtlich mobil zu machen, und ich kann sie gut verstehen. Das Völkerrecht stützt die ukrainische Position und verleiht der ukrainischen Regierung rechtliche und moralische Legitimation. Und letztendlich darf man nicht vergessen, dass das Völkerrecht der internationalen Gemeinschaft als Legitimation für eine mögliche Intervention dienen kann. Wenn der politische Wille zum Handeln gegeben ist, spielt das Völkerrecht als rechtliche Grundlage eine große Rolle.

Stefan Talmon, geb. 1965, ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht an der Universität Bonn. Vor seiner Berufung nach Bonn war er Professor of Public International Law an der Universität Oxford und Fellow des St. Anne’s College in Oxford.