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Endlich raus aus der Opferrolle

Seit 100 Jahren kämpfen Exil-Armenier für die Würdigung ihres Leides. Doch die Anerkennung des Völkermordes bedroht auch ihre Identität.

Deutscher Pass, armenischer Nachname, türkischer Mädchenname. Bei jeder Türkeireise muss Ayda Abgaryian den Grenzbeamten Rede und Antwort stehen: Ob ihre Eltern Türken seien, warum sie einen türkischen Vornamen trage, was sie in der Türkei wolle. Über ihre armenischen Wurzeln schweigt die Deutsche. Auch nach 41 Jahren im Exil weckt der Anblick türkischer Uniformen in ihr dramatische Erinnerungen. Ihr Großvater überlebte den Genozid am armenischen Volk – ihr Vater floh vor Diskriminierung und Repression.

Auf 60.000 bis 80.000 Menschen wird die armenische Diaspora in Deutschland geschätzt. Sie eint das Gedächtnis an die Vertreibung aus dem Osmanischen Reich und die Angst vor dem historischen Vergessen. Vor 100 Jahren sind auf dem Gebiet der heutigen Türkei bis zu 1,5 Millionen Armenier umgekommen. Historiker weltweit sprechen von Völkermord – doch die Türkei, der Nachfolgestaat des Osmanischen Reiches, lehnt diese Bezeichnung ab. Viele Staaten vermeiden den Begriff aus Sorge vor diplomatischen Verstimmungen mit Ankara.

„Wir wollen, dass die Welt endlich unser Leid würdigt“, sagt Ayda Abgaryian, die in der Armenischen Kirchen- und Kulturgemeinde Berlin aktiv ist. Die Gemeinde gedenkt der Leidesgeschichte seit Beginn dieses Jahres mit zahlreichen Veranstaltungen. Jedes Konzert, jeder Gottesdienst, jede Lesung transportiert die politische Botschaft einer kampfesmüden Erinnerungsgemeinschaft: „Erst wenn alle Staaten die Massaker als Völkermord anerkannt haben, finden wir Armenier Frieden.“

Doch was würde das bedeuten, Frieden finden? Bisher ist es eben dieser Kampf um Anerkennung, der die Armenier im Exil zusammenhält. Was, wenn das wegfällt, spätestens wenn irgendwann auch die Türkei die Massaker an den Armeniern als Genozid anerkennt? Darüber gehen die Meinungen auseinander.

Der Genozidforscher Mihran Dabag glaubt, dass die Exil-Armenier dann endlich einen gesicherten Raum für ihre Erinnerungen hätten, ohne politische Anfeindungen. Dass so ihre Identität gestärkt würde. Ayda Abgaryian aber sagt das Gegenteil: „Mit der Anerkennung des Völkermordes durch die Nachfahren der Täter wäre uns der Hauptgrund unseres Gedenkens genommen“.

Tatsächlich haben die Armenier in Berlin sonst nicht viel gemein. Von den insgesamt rund 2.000 stammen die meisten aus der Republik Armenien. Sie kamen erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Außer den politischen Forderungen gegenüber der Türkei verbindet sie wenig mit den Familien, die aus der heutigen Türkei, dem Libanon, aus Syrien, dem Irak oder aus Georgien vertrieben worden sind. Selbst die Sprache unterscheidet sich. „Die Diaspora hingegen teilt die Gewissheit, dass die Rückkehr in ihre Heimat ausgeschlossen ist“, erklärt Dabag vom Institut für Diaspora- und Genozidforschung der Universität Bochum. Deshalb identifiziert sie sich seit 100 Jahren über die Erinnerungen an Tod, Flucht und Vertreibung aus der einstiegen Heimat.

„In unserer Gemeinde pflegen wir diese Opferidentität“, pflichtet Ayda Abgaryian bei. Als sie mit sechs Jahren nach Deutschland kam, musste sie ständig ihre Herkunft erklären. Der permanente Rechtfertigungsdruck in der Schule oder gegenüber Nachbarskindern habe ihre armenische Identität gefestigt. Heute hingegen wüssten die meisten Deutschen und auch viele Türken über den Völkermord an den Armeniern Bescheid. Im Alltag erfährt Ayda Abgaryian viel Anerkennung für das Leid der Armenier. „In Deutschland zweifelt kaum jemand an den historischen Fakten. Wir haben schon sehr viel erreicht.“

Ayda Abgaryian beschreibt die momentane Situation als Dilemma für die armenische Diaspora: Entweder nimmt die weltweite Anerkennung die Notwendigkeit, weiter auf ihre Opfergeschichte zu pochen. Oder die Erinnerung an den Genozid wird nach und nach verblassen. Das schleichende Vergessen sei wahrscheinlicher, fürchtet Ayda Abgaryian. Schon jetzt interessieren sich die Kinder in ihrer Kirchengemeinde kaum für die Leidensgeschichte ihrer Groß- oder Urgroßeltern, die sie nie kennengelernt haben, für eine verflossene Heimat, die sie nie betreten haben. „Ich bin bei meinem Großvater in der Türkei aufgewachsen“, erzählt die 47-Jährige. „Vom Leid meines Volkes habe ich in seinen Erzählungen gehört. Dieser persönliche Bezug fehlt den nachfolgenden Generationen.“

Jahr für Jahr reist Ayda Abgaryian in die Türkei und nimmt die Fragen der türkischen Grenzbeamten in Kauf, um die Erinnerung an ihren Großvater zu pflegen. Am Mosesberg Musa Dagh im Süden der Türkei versteckte er sich vor osmanischen Soldaten, als die im Frühsommer 1915 nach einem Erlass der jungtürkischen Regierung das Reich nach armenischen Gemeinden durchsuchten. Alle armenischen Christen sollten in die Wüsten von Syrien und Mesopotamien gebracht werden. Für Hunderttausende endeten die Deportationen tödlich. Augenzeugen wie die Schweizerin Clara Sigrist-Hilty sprachen von „Todesmärschen“. Nur wenige entkamen, wie Aydas Großvater, den Deportationen. Seine Erinnerungen leben dank seiner Familie weiter. Noch.

Die Augenzeugen sterben und für die dritte oder vierte Generation sind die Ereignisse zu weit weg. Das bereitet auch Aydas Vater Canik Sorge. 35 Jahre hielt seine Familie dem Assimilierungsdruck der türkischen Politik stand. Als Caniks Familie 1939 aus dem ersten Exil in Ägypten an die Hänge des Musa Dagh zurückkehrte, musste sie ihren armenischen Nachnamen Pennenian ablegen. Seither heißen sie Capar – das türkische Wort für Sommersprossen –, weil der Großvater auffällig viele im Gesicht trug. In ihrem Dorf durften die Capars weder Armenisch reden, noch ihren Glauben öffentlich leben. Nicht einmal die Dorfkirche durften sie renovieren. „Der Assimilierungsdruck war enorm“, erinnert sich Canik Capar. 1955 erlebte er ein Pogrom gegen Nichtmuslime in Istanbul. Seine Anstellung als Grundschullehrer kündigte er, weil ihn das gesamte Kollegium mobbte. 1973 ging Canik Capar mit 32 Jahren nach Deutschland. Als erstes kaufte er im KaDeWe armenische Musik.

Auch nach 42 Jahren in Deutschland spricht Canik Capar zu Hause den armenischen Dialekt aus seinem türkischen Heimatdorf. In der armenischen Kirchen- und Kulturgemeinde Berlin ist der 74-Jährige ebenso eine Institution wie seine Tochter Ayda. Ob auch seine Enkel noch für Anerkennung kämpfen würden, bezweifelt er. „Irgendwann interessiert die Frage Völkermord oder nicht keinen mehr.“ Dann wäre die armenische Diaspora ihrem Frieden einen Schritt näher. Und hätte einen Grund weniger, ihrer Opferrolle zu gedenken.