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„Es geschieht alles, was Herr Orbán will“

Viktor Orbán regiert autoritär und gilt vielen Ungarn als peinlich. Warum er am Sonntag wohl erneut zum Premier gewählt wird, erklärt die ungarische Journalistin Edit Inotai.

ZEIT ONLINE: Frau Inotai, Sie haben uns vor drei Jahren beschrieben, wie Viktor Orbán mit einem Mediengesetz kritische Journalisten im Land zum Verstummen bringen wollte. Wie ist die Situation aktuell vor den Parlamentswahlen am Sonntag?

Edit Inotai: Es ist schwieriger geworden für viele Journalisten, insbesondere im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Dort sind viele unabhängige Journalisten entlassen und durch loyale ersetzt worden. Die Regierung hat heute ein Nachrichten- und Informationsmonopol: Die staatlich gelenkte Nachrichtenagentur beliefert auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen und den Hörfunk. Es gibt keine offene Zensur, aber diese Sender werden ganz klar kontrolliert. Und kritische Journalisten werden nicht mehr zu Pressekonferenzen eingeladen. Meine Kollegin, die seit Jahren über Budapest oder Innenpolitik schreibt, ist regelmäßig ausgeschlossen.

ZEIT ONLINE: Was bedeutet das für den Wahlkampf?

Inotai: Ein Großteil der Ungarn informiert sich über öffentlich-rechtliche Sender. Sie bekommen eine ganz einseitige Perspektive auf die Politik. Vor einer Woche zum Beispiel wurde die neue Metrolinie 4 in Budapest eingeweiht. Das hat die Regierung als ihr Verdienst dargestellt, obwohl an der Linie schon seit der Wende gebaut wird. Das passt zu dem Slogan der Regierungspartei Fidesz: „Magyarország jobban teljesít!“ („Ungarn geht es besser“). Die Regierung hat zudem keine Wahlversprechen gemacht. Sie sagt lediglich: Wir haben einen neues Haus gebaut. Jetzt brauchen wir vier weitere Jahre, um es schön einzurichten. Und die kontrollierten Medien verbreiten die Erfolge der letzten vier Jahre.

ZEIT ONLINE: Was unternimmt die Opposition?

Inotai: Die Opposition wird diskreditiert, indem Skandale auf allen Kanälen breitgetreten werden. Ein hochrangiger Politiker der Sozialistischen Partei MSZP, Gábor Simon, hat in seiner Steuererklärung ein Konto in Österreich verschwiegen, auf dem er fast eine Million Euro lagerte. Ein Riesenskandal, über den tagtäglich berichtet wird. Auch wenn die Partei Simon ausgeschlossen hat – solche Skandale schwächen die Opposition natürlich. Skandale im Regierungslager werden hingegen totgeschwiegen. Gerade erst wurde aufgedeckt, dass ein junger Bürgermeister, der Fidesz-Fraktionsvorsitzende Antal Rogán, eine Luxuswohnung mit fast 300 Quadratmetern in der Budapester Innenstadt hat. In der Vermögenserklärung im Parlament hat er dazu falsche Angaben gemacht. Darüber berichten die loyalen Zeitungen nicht.

ZEIT ONLINE: Die Fidesz-Partei von Viktor Orbán wird die Wahl also gewinnen?

Inotai: Ich habe keine Zweifel daran, dass er die Mehrheit, vielleicht sogar die absolute Mehrheit, gewinnt. Zumal das neue Wahlgesetz die Regierungspartei begünstigt. Die Regierung hat die Wahlkreise so geändert, dass sie in den einzelnen Bezirken besser abschneiden wird. Außerdem hat sie eine Mehrheitswahl nach englischem Vorbild eingeführt. Die Partei mit den meisten Stimmen gewinnt den Parlamentssitz. Die Stimmen für die nachfolgenden Parteien verfallen. Auch das begünstigt die Fidesz-Partei. Experten sagen, dass Orbán dadurch auch leichter seine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament behält. Vielleicht reichen ihm dafür weniger als 50 Prozent der Wählerstimmen. Das hat Orbán wirklich geschickt gemacht.

ZEIT ONLINE:Mit wem wird Orbán koalieren, wenn er keine Zwei-Drittel-Mehrheit bekommt?

Inotai: Das wäre eine total neue Erfahrung für ihn. Bisher kann die Fidesz-Partei ja alles alleine beschließen. Von den drei Oppositionsparteien, die es wahrscheinlich ins Parlament schaffen werden, ist keine auf Orbáns Linie. Da bin ich gespannt. Das linksliberale Bündnis Kormányváltók ist zur Wahl angetreten, um Fidesz abzuwählen. Sie scheiden als Koalitionspartner aus. Die rechtsradikale Partei Jobbik hat sich im Wahlkampf als sehr salonfähig dargestellt. Gut möglich, dass sie zweitstärkste Fraktion hinter Fidesz wird. Aber ein Bündnis mit den roma- und juden-feindlichen Jobbik-Agbeordneten würde viel Kritik aus dem Ausland bedeuten. Deswegen glaube ich, dass es zu einer Koalition mit der LMP kommen wird, eine kleine grüne Partei, die sich als Alternative zwischen Regierung und Opposition sieht. Das ist für Orbán das einfachste.

ZEIT ONLINE:Orbán hat in den letzten vier Jahren die Medien, die Justiz, den Staatsapparat, das Bildungswesen und selbst die Krankenhäuser unter seinen Einfluss gebracht. Wie wird diese Entwicklung von den Ungarn gesehen?

Inotai: Es gibt viele kritische Stimmen, auch in den Ministerien, die mit Orbán zusammenarbeiten müssen. Und die jungen Leute nehmen Orbán nicht ernst. Es ist schon seltsam, dass wir zwanzig Jahre nach der Wende eine neue Form des Staatssozialismus haben. Unter Orbán wurden viele Firmen verstaatlicht. Dabei bereicherte sich die politische Elite auch selbst, es gab viel Korruption. Interessanterweise scheint das viele Ungarn gar nicht zu beeindrucken. Sie sagen: Na ja, die stehlen, Politiker sind halt so. Aber viele Ungarn sind auch enttäuscht von der Politik.

ZEIT ONLINE: Warum wählen die Ungarn dann Orbán erneut zum Premier?

Inotai: Viele sehen keine andere Alternative. Das ist natürlich schlimm für eine Demokratie, aber die Opposition hat die letzten vier Jahre nicht genutzt. Sie hat sich in internen Streitigkeiten verloren und war mit eigenen Skandalen beschäftigt. Sie hat kein Wahlprogramm, außer der Abwahl Orbáns. Das ist nicht genug. Außerdem fehlt ihr eine charismatische Figur. Orbán hat es geschafft, sich als Stimme der ungarischen Interessen zu präsentieren. Das stimmt natürlich nicht. Aber er ist ein guter Redner. Wenn Orbán eine Sondersteuer für Banken einführt, dann verstehen viele Menschen nicht, dass sie als die Kunden der Bank die Steuer letztlich selber finanzieren.

ZEIT ONLINE:Geht es den Ungarn unter Orbán besser oder schlechter als zuvor?

Inotai: Einige Ungarn, vor allem aber die Besserverdienenden, haben von der niedrigen Einkommenssteuer von 16 Prozent profitiert, die Orbán zu Beginn seiner Amtszeit eingeführt hat. Die Schere zwischen arm und reich ist in den letzten vier Jahren dramatisch gestiegen. Für Arme gibt es wenig Perspektiven, vor allem auf dem Land. Dennoch hat Orbán es geschafft, die Stimmung im Land zu verbessern. Als er an die Macht kam, hielten die Ungarn die Regierung für korrupt. Man dachte: Ungarn ist ein chaotisches Land, das nicht vorwärts kommt. Heute sieht man überall in Budapest, dass sich etwas ändert. Ständig wird etwas Neues eingeweiht. Aber das hat seinen Preis: Es fehlen die politische Debatte, die Expertenmeinungen. Es geschieht alles, was Herr Orbán will.

ZEIT ONLINE: Brauchen die Ungarn einen starken Mann an der Spitze?

Inotai: Wir haben in der Geschichte immer wieder starke Männer im Amt gehabt: Staatslenker Miklós Horthy zwischen den Weltkriegen oder der kommunistische Ministerpräsident János Kádár ab den 1950er Jahren. Ich würde aber nicht sagen, dass Paternalismus etwas Genetisches in Ungarn ist. Orbán ist einmalig, weil in seiner Partei keine Debatte, keine Kritik möglich ist. Das gab es noch nicht in der Geschichte unseres Landes.

ZEIT ONLINE: Herr Orbán macht Stimmung gegen die EU und Europa. Stößt das nicht bei vielen Ungarn auf Ablehnung?

Inotai: Ja, einerseits. Viele sagen zwar: Das ist ja nur Rhetorik, das kann man nicht mit Politik gleichsetzen. Aber vielen anderen Ungarn ist dieser Ton peinlich. In den Umfragen ist in den letzten Jahren der Zuspruch der Ungarn zu Europa gestiegen. Mehr und mehr Ungarn fühlen sich als Europäer. Leider hat Orbáns Opfer-Rhetorik auch Ressentiments gegenüber den europäischen Nachbarn geschürt. Dass die reichen Ausländer nur als Investoren nach Ungarn kommen, um das Land auszubeuten. Ich glaube aber, dass Orbán weniger Sympathisanten hat als noch vor vier Jahren.

ZEIT ONLINE: Wie sieht Ungarn in vier Jahren aus?

Inotai: Viele Experten sagen, dass Ungarn dringend Reformen braucht. Das Haushaltsdefizit liegt bei drei Prozent. Das ist auch der Grund, warum Orbán keine Wahlversprechen machen wollte. Er wird wohl wissen, dass er künftig mehr sparen muss. Aber die Machtkonzentration wird noch zunehmen. Ich glaube, dass die Gesellschaft bald genug haben wird. Wenn die Opposition lernt, sich besser zu organisieren, könnte sie Orbán die Macht streitig machen. Und wir brauchen endlich eine gemäßigte konservative Partei. Bislang haben wir in Ungarn nur linke Parteien.

Edit Inotai ist Leiterin des Ressorts Außenpolitik bei der ungarischen Qualitätszeitung Népszabadság. Die 44-Jährige arbeitet seit 18 Jahren für das Blatt, das als regierungskritisch gilt und eine Auflage von etwa 70.000 Exemplaren hat. FürNépszabadság war sie auch vier Jahre als Korrespondentin in Berlin.