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Frieden statt Gerechtigkeit?

Sechs Millionen Opfer zählt der Krieg zwischen dem kolumbianischen Militär und den Farc-Rebellen. Präsident Santos will Frieden schließen. Um welchen Preis?

Zwei Jahre lang hatten die Bewohner von Miranda Ruhe vom Krieg zwischen Freiheitskämpfern und dem kolumbianischen Militär. Dann schlugen erstmals wieder die Tatucos – die selbstgebauten Raketen der Farc-Guerilla – in dem Dorf im Südwesten des Landes ein. Sie töteten ein zweijähriges Mädchen. Statt des Truppenstützpunktes im Ort hatten die Geschosse eine nahe gelegene Hütte getroffen und die Familie mit fünf Mitgliedern im Schlaf überrascht.

Der Tod des Mädchens ist der traurige Höhepunkt einer Serie von Angriffen und Sabotageakten der Farc, die viele Kolumbianer an den Friedensabsichten der Rebellen zweifeln lassen. Und die den Präsidenten des Landes verärgern. Schließlich will Juan Manuel Santos in die Geschichte des Landes eingehen als Präsident, der Kolumbien nach über 50 Jahren Bürgerkrieg befriedet. Mit diesem Versprechen ist er im Juni wiedergewählt worden. Am Donnerstag beginnt seine zweite Amtszeit – unmittelbar vor der neuen Verhandlungsrunde mit den Farc-Unterhändlern auf Kuba.

Ob sie stattfindet, ist noch ungewiss. Vergangene Woche drohte erst Präsident Santos, dann ein Farc-Unterhändler in Havanna mit dem Abbruch der Gespräche. Beide Seiten warfen sich gegenseitig vor, mit dem Feuer zu spielen. Dass die Verhandlungen platzen könnten, glaubt allerdings kaum jemand in Kolumbien: „Noch nie standen die Konfliktparteien so kurz vor einer Einigung“, sagt Friedensforscherin Angelika Rettberg von der Universidad de los Andes in Bogotá. „Das will keine der beiden Seiten ernsthaft aufs Spiel setzen.“

Undurchsichtiges Täter-Opfer-Geflecht

Tatsächlich haben sich die Unterhändler auf Kuba in drei von fünf  Verhandlungspunkten bereits geeinigt: Sie verständigten sich auf eine Landreform, politische Partizipation der Ex-Kämpfer und Drogenbekämpfung. So ist der verbale Schlagabtausch höchstwahrscheinlich nicht mehr als politisches Theater: Während sich Präsident Santos und Farc-Unterhändler Marcos Calarcá mit gegenseitigen Schuldzuweisungen übertrafen, liefen die Vorbereitungen für den vierten und vielleicht heikelsten Verhandlungspunkt unvermindert weiter: Die Frage, wie Staat und Guerilla mit den Tätern und den rund sechs Millionen Opfern des Krieges umgehen sollen.

Wer ist Täter und wer ist Opfer? Seit dem ersten Opfer-Gesetz von 2005, das Hinterbliebene entschädigen und Täter reintegrieren und sollte, versuchen Staat und Menschenrechtsorganisationen, das undurchsichtige Geflecht zu entwirren: Vertriebene Bauern, die sich den Rebellengruppen anschließen und ihrerseits Gewalt verüben; Paramilitärische Gruppen, die zum Schutz der Bevölkerung ihre eigenen Gesetze aufstellen. All das zu entknoten, brauche Zeit und politischen Willen, erklärt Politikwissenschaftlerin Soledad Granada im Gespräch mit ZEIT ONLINE: „Man kann nicht eine ganze Gruppe vor Gericht stellen.“

Auch wenn beide Seiten öffentlich eine Amnestie ausschließen: Es gilt als unwahrscheinlich, dass viele Täter am Ende tatsächlich verurteilt werden. Es ist eine schwierige Situation: Die Opfer verlangen Gerechtigkeit, aber zu viele Verurteilte gefährden den gesellschaftlichen Frieden. „Der Frieden kostet Gerechtigkeit“, fasst Friedensforscherin Rettberg das Dilemma zusammen. Sie empfiehlt daher den Einsatz einer unabhängigen Wahrheitskommission wie in Chile oder Argentinien nach dem Ende der Militärdiktatur. „Die Opfer müssen zumindest Wahrheit und Anerkennung bekommen.“

Die Chancen dafür stehen derzeit nicht schlecht: Die kolumbianische Regierung und die Farc haben dieses Jahr erstmals die beidseitige Verantwortung für die Opfer des Krieges eingeräumt. Ein Meilenstein auf dem Weg zum Frieden, der Santos kurz vor der Stichwahl mit dem rechten Rivalen Zuluaga die entscheidenden Stimmen beschert haben könnte.

Kolumbien ist dem Frieden so nah wie nie zuvor – auch mit der zweiten aktiven Guerilla-Gruppe ELN gab es erste Gespräche. Dennoch hat die Friedensstrategie des Präsidenten Schwachstellen. So lautet der Verhandlungsgrundsatz, auf den sich Regierung und Farc-Rebellen geeinigt haben: „Nichts ist beschlossen, bis alles beschlossen ist.“ Die bislang getroffenen Teilübereinkünfte wären also wertlos, sollten sich die beiden Seiten bei den noch ausstehenden Themen überwerfen. Besonders gegen den letzten Verhandlungspunkt – die Entwaffnung der Guerilla – haben einzelne Farc-Gruppen ihren Widerstand angekündigt.

Die größte Gefahr für den Friedensprozess geht jedoch von den anhaltenden Kämpfen aus. Die kolumbianische Regierung wird sich nicht auf einen Waffenstillstand einlassen, das hat mit schlechten Erfahrungen zu tun: 2002 gestand die Regierung den Rebellen ein entmilitarisiertes Gebiet von der Größe der Schweiz zu – und musste bald einsehen, dass sie die Kontrolle verlor.

So verhandelt die Regierung auf Kuba mit den Rebellengruppen, während die Armee sie in Kolumbien tagtäglich bekämpft. Allein an dem Tag, an dem die Farc das Dörfchen Miranda angriff, verzeichnete das Militär acht Einsätze gegen Rebellen, wie das kolumbianische Heer auf seiner Website protokolliert.

Widerstand im Parlament

Die anhaltenden Gefechte zehren nicht nur an der Geduld der Bevölkerung, sie setzen auch die Regierung unter Druck: Nach dem Anschlag in Miranda forderte Generalstaatsanwalt Ordóñez den Präsidenten dazu auf, die Friedensverhandlungen mit den Widerstandskämpfern zu beenden. Hinzu kommt, dass die Regierungskoalition im neugewählten Parlament ihre Mehrheit eingebüßt hat. Präsident Santos trifft dort auf seinen Vorgänger Álvaro Uribe, einen vehementen Bekämpfer der Rebellen. In seinen beiden Amtszeiten hatte Uribe die Gewalt mit verstärkter Militärpräsenz zu lösen versucht. Nun kämpft er im Senat gegen die politische Beteiligung der Ex-Kämpfer, sowie gegen Haftstrafen für Militärs oder paramilitärische Gruppen.

Zwar kann die Uribe-Fraktion mit ihren 19 Senatssitzen nicht die Umsetzung der Verhandlungsergebnisse verhindern – den Weg dahin kann sie aber sehr wohl torpedieren. Etwa indem sie den gesetzgebenden Prozess mit vielen Diskussionen und Anfragen lähmt, oder mit ihrer Kritik den öffentlichen Diskurs mitprägt. Das scheint auch Präsident Santos zu befürchten. Vor zwei Wochen sagte er in der Eröffnungssitzung des neugewählten Parlaments: „Der Frieden, den wir mit der Opposition suchen, ist im Endeffekt derselbe, den wir mit den Farc-Rebellen erreichen wollen. Er soll gerecht sein, auf der Wahrheit basieren und niemanden seiner Verantwortlichkeit entbinden.“

Die Menschen in Miranda sind für Verhandlungen

Wie jedoch die konkrete Umsetzung der Einigung in den fünf Teilübereinkünften aussehen könnte, darüber schweigen sich die Verhandlungsführer bislang aus. Besonders die Frage, ob und in welcher Form die Farc als politische Partei anerkannt wird, ist umstritten. Nach einer Umfrage der Vanderbilt Universitywürden 54 Prozent der Kolumbianer einen Wahlsieg der Farc nicht anerkennen. Noch unterstützt die Mehrheit der Kolumbianer die Friedensbemühungen der Regierung. Auch die Dorfbewohner aus Miranda sind dafür. Nach dem Anschlag trafen sie sich zum Friedensmarsch. Die Gespräche auf Kuba sollen weitergehen, erklärte die Bürgermeisterin.

Die kolumbianische Gesellschaft scheint zu spüren, wie einmalig die derzeitige Chance ist, den Konflikt dauerhaft beizulegen. Friedensforscherin Rettberg warnt dennoch vor einer vorschnellen Euphorie: „Frieden bedeutet nicht, dass es von heute auf morgen keine Gewalt mehr gibt.“ Die kolumbianische Regierung müsse klarmachen, dass der Frieden mit den Farc nur ein erster Schritt sei. Klar ist: Eine Einigung mit den Farc macht aus Santos noch keinen Friedenspräsidenten.