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Staatlich verordnete Narrenfreiheit

Die argentinische Regierung hat einmal versprochen, auf Polizeigewalt gegen Demonstranten zu verzichten. Das ist ein Problem: Verbrechen werden nicht mehr geahndet.

Das andauernde Dilemma der argentinischen Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner geht auf einen Flug der Präsidentenmaschine Tango 01 nach Peking vor zehn Jahren zurück. Damals hieß der Präsident Néstor Kirchner, Cristinas 2010 verstorbener Ehemann. Und er sagte damals einen Satz, der erklärt, warum sich Demonstranten heute auf den Straßen Argentiniens nahezu alles erlauben können. Nie werde seine Regierung soziale Proteste mit Polizeigewalt unterdrücken, versprach Kirchner an Bord des Flugzeugs, wie ein Vertrauter später an Journalisten weitergab. Seiner Frau Cristina Kirchner, die sich diesem Versprechen verpflichtet fühlt, entgleitet heute deshalb immer wieder die Kontrolle über die öffentliche Sicherheit.

Als Néstor Kirchner 2003 an die Macht kam, lag Argentinien wirtschaftlich am Boden. Nach zehn Jahren neoliberaler Wirtschaftspolitik, nach Massenentlassungen und dem Verkauf von Staatsunternehmen an ausländische Investoren, lebte über die Hälfte der Argentinier in Armut. Es war die Geburtsstunde der „piqueteros“: Arbeiter und Gewerkschafter, aber auch politische oder soziale Gruppen, die Straßenblockaden errichten, um ihrem Ärger Luft zu machen und Besserung zu fordern.

Die Protestblockaden gibt es auch heute noch, im Schnitt sind es vier pro Tag. Im Februar waren es über fünfhundert, auch weil die wirtschaftliche Situation in Argentinien wieder angespannt ist. Bei den meisten werden Lohnsteigerungen gefordert, wegen der hohen Inflation. Die Lehrer in der Provinz Buenos Aires streikten gerade dreizehn Tage in Folge.

Die Regierung ist rat- und machtlos. Ein Dekret des Provinzgouverneurs Daniel Scioli, das den Lehrern in zwei Stufen 30 Prozent mehr Lohn zugesteht, hat den Streik nicht beendet. In vierzehn weiteren Provinzen fordern die Lehrer höhere Löhne. Ein noch größeres Problem für die Regierung, die Demonstrationen traditionell nicht räumen lassen will: Nicht alle Streiks verlaufen friedlich.

Vergangene Woche sperrten Hafenarbeiter eine Brücke in Buenos Aires, um die Wiedereinstellung elf entlassener Kollegen zu erreichen. Als sich eine hochschwangere Frau in Begleitung ihres Mannes einen Weg durch die Absperrungen bahnen wollte, verprügelten die Streikenden den Mann und stießen ihn von der Brücke. Der Mann überlebte den Sturz. Die Täter werden wohl ungeschoren davonkommen. So ist es jedenfalls bei ähnlichen Vorfällen immer gewesen.

Umweltschützer sperren vier Jahre lang Grenze nach Uruguay

Die Straffreiheit trieb bereits unter Präsidenten-Vorgänger Néstor Kirchner seltsame Blüten. Einmal wurde Kirchners Arbeitsminister Carlos Tomada die ganze Nacht von Anarcho-Gewerkschaftern daran gehindert, das Gebäude seines Arbeitsministeriums zu verlassen. Kirchner empfahl trocken, ein Klage bei Gericht einzureichen, wohl wissend, dass die regierungsnahen Richter die Klage fallenlassen würden. Die Polizei blieb in der Kaserne.

Ein anderes Mal mutierte die feierliche Überführung des Leichnams von Staatsidol Juan Domingo Perón zum blutigen Kampf zweier rivalisierender Gewerkschaftsgruppen. Es ging um die Frage, wer an welcher Stelle der Prozession marschieren durfte. Kirchner hielt die Polizisten zurück, selbst als die Gewerkschafter mit Pistolen um sich schossen und das Mausoleum Peróns verwüsteten.

Und selbst wenn Blockaden zu internationalen Spannungen führen, wie in dem Fall, als argentinische Umweltschützer vier Jahre lang einen wichtigen Grenzübergang nach Uruguay  lahmlegten, bleibt es bei der Devise der Kirchner-Dynastie: keine Polizeigewalt bei sozialen Protesten.

Cristina Kirchner hat sich die Politik ihres Mannes auf die Fahnen geschrieben, die auch politische Gegner als Verdienst Néstor Kirchners sehen. Als erster Präsident Argentiniens hatte Kirchner die juristische und moralische Aufarbeitung der für das Land so prägenden Militärdiktatur angepackt. Heute sind 370 verantwortliche Militärs und Folterknechte für den Staatsterror verurteilt, die zwischen 1976 und 1983 geschätzt 30.000 Personen ermordet haben.

Kirchner unterstützte Menschenrechtsgruppen wie die Madres de Plaza de Mayo, hat Gedenktage eingeführt und Gedenkstätten wie das ehemalige Folterzentrum ESMA eröffnet. Kirchner stand in den 1970er Jahren einer subversiven Studentengruppe nahe. Ein Grund dafür, dass er die Staatsgewalt auch als Präsident strikt ablehnte.

Ein zweiter Verdienst Néstor Kirchners war es, das Land aus der schweren sozialen Krise herausgeführt zu haben, die im Dezember 2001 in Chaos, Plünderungen und der Forderung gipfelte, die Politiker sollten alle verschwinden. In nur zehn Tagen wurden fünf Präsidenten verschlissen. Doch Kirchners Vorgänger Eduardo Duhalde wusste sich nicht anders als mit brutaler Polizeigewalt gegen die anhaltenden sozialen Proteste zu helfen. Am 26. Juni 2002 starben bei einem Polizei-Einsatz zwei Demonstranten in Buenos Aires. Duhalde musste gehen.

Kirchner hat die Botschaft verstanden. Eine seiner ersten Amtshandlungen war es, rund 3.000 wegen Gewaltdelikten verurteilte Gewerkschafter zu begnadigen. Die sozialen Proteste „entkriminalisieren“, nannte Kirchner dieses Konzept. Doch er schoss über sein Ziel hinaus. Wer heute im Namen des sozialen Protests eine Straftat begeht, hat weder Polizei noch Gericht zu fürchten.

Die rund 60 verschiedenen Piquetero-Gruppen verstehen das als Einladung. Cristina Kirchner, die Néstor 2007 im Präsidentenamt nachfolgte, beteuert mantrahaft bei jeder Gelegenheit, die sozialen Proteste würden niemals „kriminalisiert“.  Das hat unerwünschte Folgen für die Regierung. Während eines verbitterten Streits zwischen Regierung und dem Agrarsektor um die Erhöhung der Exportsteuer blockierten verschiedene Gruppen über fünf MonateÜberlandstraßen, bis die Lebensmittel in der Hauptstadt knapp wurden. Die Regierung gab das umstrittene Dekret zur Abstimmung ins Parlament zurück. Spätestens da war klar, dass sie erpressbar ist.

Seither ist die Zahl der Proteste gestiegen. Allein in Buenos Aires schwankten sie in den letzten Jahren zwischen 600 und 900 pro Jahr. Wegen der hohen Inflation steht der Regierung eine massive Streikwelle bevor.

Kirchner erwägt erstmals Einschränkung des Streikrechts

Cristina Kirchner sind die Hände gebunden. Schickt sie die Polizei auf die Straße, verliert sie einen Großteil ihrer Unterstützer, die Staatsgewalt aufgrund der Diktaturerfahrungen ablehnen. Bisher konnte die Regierung die Protestler vor juristischen Folgen schützen. Doch auch dies könnte sich ändern. Der Richterrat, der die Oberrichter beruft und absetzt, hat soeben einen Oberrichter einbestellt, der offensichtlich im Sinne der Regierung urteilt.

Sollte er abgesetzt werden, hätte das eine Signalwirkung für alle Gewerkschafter, die vielleicht nicht mehr mit einem politisch mildem Urteil rechnen können. Und gleichzeitig hat ein anderer Oberrichter begonnen, gegen die Straffreiheit von korrupten Regierungsmitgliedern und gewaltbereiten Demonstranten vorzugehen.

Zu Jahresbeginn erwog die Präsidentin erstmals öffentlich, das uneingeschränkte Streikrecht gesetzlich einzuschränken: „Es kann nicht sein, dass zehn Personen eine Straße sperren können, gleichgültig, welche Gründe sie dafür haben.“ Die regierungsfernen Streikgruppen kündigten ihren Widerstand gegen das Vorhaben an. „Auch wenn sie unsere Rechte beschneiden, wir werden weiter streiken, mit oder ohne Gesetz“, sagte Gewerkschaftsführer Juan Carlos Alderete und rief zum Generalstreik auf.

Die Botschaft an Kirchner ist klar: An dem Streikrecht wird nicht gerüttelt. Sofort stellten Regierungsmitglieder die Aussagen ihrer Präsidentin richtig: Es werde kein solches Gesetz geben. Der Präsidentin sei es um das friedliche Zusammenleben im Land gegangen.