Schwerpunkt, Textbeitrag

Trügerische Ruhe am Oranienplatz

Das Flüchtlingscamp am Berliner Oranienplatz ist geräumt, die Politik zufrieden. Zurück bleiben Streit und Wut – besonders bei einer Gruppe der Flüchtlinge.

Als die Abendsonne an diesem Dienstag auf den Oranienplatz scheint, ist eine trügerische Ruhe eingekehrt. Die Polizisten entlang der rot-weißen Absperrung, die den Platz umgibt, feixen. Sie bewachen, was vom Protestcamp übrig geblieben ist – zwei riesige Haufen aus alten Matratzen, blauen Zeltplanen, ein Dutzend Sofas. An einer Platane lehnt ein Besen. Ein Dutzend Schaulustige säumt den Platz. Das provisorische Flüchtlingslager in Berlin-Kreuzberg ist geräumt. Aber der Streit über den Umgang mit den Flüchtlingen und ihren Platz in Berlin, in Deutschland, er geht weiter.

Über den Ort, an dem Flüchtlinge und Sympathisanten 18 Monate lang ihre Forderungen nach einer anderen Asylpolitik erhoben haben, ist an diesem Morgen die Staatsgewalt hinweggefegt. Die, die nicht freiwillig gehen wollten, hat die Polizei weggetragen. Ein paar Aktivisten haben sich auf einen Baum geflüchtet. Sie harren dort immer noch aus. Am Fuß der Platane warten zwei Beamte darauf, dass sie herunterkommen.

Über den Polizeieinsatz kann sich Sista Mimi (Name geändert) nicht genug ärgern, und sie lässt ihrem Ärger freien Lauf. Eine Freundin von ihr sitzt auch in dem Baum. Mimi tigert vor der Absperrung und den Polizisten auf und ab, versucht sie zu provozieren, schimpft auf die Stadt und den „Slum“, den sie hier angerichtet habe. Ihre Stimme ist heiser. Sie zieht ein Bein beim Gehen nach. „Guckt, was euch geboten wird“, raunt ein Polizist den anderen zu.

Berliner Senat hat Flüchtlinge gespalten  

Mimi, Ende 30, Rastazöpfe, ist als politisch Verfolgte nach Deutschland gekommen. Sie stammt aus einem afrikanischen Land. Aus welchem, will sie nicht sagen, aus Angst, die Berliner Behörden könnten ihre Identität feststellen. Was Sista Mimi so ärgert, hat sich in den letzten Wochen abgezeichnet: Der Senat hat es geschafft, die „O-Platz“-Flüchtlinge zu spalten. Ein Teil, die sogenannte Lampedusa-Gruppe, hat zugestimmt, das Camp gegen einen Platz in einem neuen Heim und Einzelfallprüfung zu tauschen. Der Rest, zu dem auch Sista Mimi gehört, fühlt sich doppelt verraten: Von den „Lampedusern“, weil sie mit dem Senat einen Deal auf eigene Faust ausgehandelt haben. Vom Senat, weil sie dessen Angebot für halbherzig halten: Die Wohnungen, die den Flüchtlingen in den angrenzenden Bezirken zur Verfügung gestellt werden, würden gar nicht für alle reichen.

Seit Januar verhandelte die Integrationssenatorin Dilek Kolat (SPD) mit den Flüchtlingen. Für Kolat, aber auch die grüne Bezirksbürgermeisterin Monika Hermann, ist die Situation ein Dilemma. Sie wollen Verständnis für die Flüchtlinge demonstrieren, müssen aber dennoch die Interessen der Stadt Berlin vertreten. Das heißt: die rechtswidrige Besetzung eines Platzes beenden, notfalls mit Polizeigewalt.

Nun freuen sich die Politiker über die „Einigung“ mit den Flüchtlingen, aber von diesen freuen sich nicht alle mit. Bei der Räumung am frühen Morgen kam es zu Rangeleien zwischen den Gruppen. Die Lampeduser halfen bei der Räumung, die anderen wollten sie daran hindern. Der Landesverband der Jungen Union dankte Innensenator Henkel für die Auflösung des Camps. Verschiedene linke Gruppen haben zu einer Solidaritätsdemo am Abend aufgerufen.

„This is our O-Platz“

Die Handvoll Flüchtlinge, die sich jetzt noch um Sista Mimi scharen, blicken mit leeren, müden Augen auf den Platz. Sie sagen: „Wir sind hierhergekommen, um ein besseres Leben für uns zu erreichen. Jetzt sollen wir das aufgeben, nur um wieder im Lager zu leben?“ Nach anderthalb Jahren des Protestes, der viel mediale Aufmerksamkeit, Sympathie und solidarische Unterstützung bei Nachbarn, Vereinen und linken Gruppierungen, aber auch Anfeindungen und Unmut in der unmittelbaren Nachbarschaft ausgelöst hat, fürchten sie, dass sie jetzt plötzlich von der Bildfläche verschwinden – ohne, dass ihre Forderungen eingelöst wurden. Dass alles umsonst war. Die letzten Flüchtlinge vom Oranienplatz, sie fühlen sich wie die Verlierer.

Im September 2012 kamen sie hierher. Rund 60 Flüchtlinge durchquerten zu Fuß die Republik. Sie wollten die Politik in Berlin dazu bringen, die Residenzpflicht und Lebensmittelmarken abzuschaffen, und ihnen Recht auf Arbeit und Schutz vor Abschiebung zu gewähren. Die Zeit schien reif. Ein paar Monate zuvor hatte das Bundesverfassungsgericht beanstandet, dass die Leistungen für Asylbewerber zu niedrig seien. 225 Euro monatlich, der Satz stammt noch aus D-Mark-Zeiten, aus dem Jahr 1993. Das sei nicht mit dem Grundrecht auf menschenwürdiges Existenzminimum vereinbar, urteilten die Richter.

Die Gesetzgeber besserten daraufhin nach. Die Leistungen sollen auf Hartz-IV-Niveau aufgestockt (374 Euro) werden, aber überwiegend aus Sachleistungen bestehen. Und nur politische Flüchtlinge sollen den neuen Höchstsatz erhalten. Eine Arbeitsgenehmigung für Flüchtlinge aber, die mitunter jahrelang in Flüchtlingscamps auf den Ausgang des Asylverfahrens warten, gibt es bisher ebenso wenig wie das Recht auf die eigenen vier Wände außerhalb der lagerähnlichen Heime. Die Zugeständnisse reichen Sista Mimi und den anderen am Oranienplatz nicht.

Deshalb richteten sie sich darauf ein, länger in Berlin zu bleiben, weiter zu protestieren. Zusätzlich zum Oranienplatz besetzten sie eine ehemalige Schule. Rund 200 Flüchtlinge, darunter auch Mimi, wohnen dort, in der Ohlauer Strasse, zehn Gehminuten entfernt. Mittlerweile sollen dort auch Roma-Familien leben. Später am Abend wird der spontane Protestmarsch dort vorbeikommen. Ein paar Fensterscheiben werden zu Bruch gehen und ein paar Randalierer verhaftet. Doch noch ist es ruhig.

Verlobte auf dem Baum

Um Sista Mimi hat sich ein Kreis aus Flüchtlingen und Sympathisanten gebildet. Es hat sich rumgesprochen, dass ein Reporter der „Times“ hier sei und die Gruppe hofft auf neue Aufmerksamkeit für ihre Anliegen. Ein Mann um die 30, der bei jedem Wort Mimis nickt, schaltet sich ein. „Dass sich nach der Räumung keiner mehr hier aufhalten darf, ist eine Frechheit“, sagt er. Der Mann, Schiebermütze, helles Haar, dreht sich um und deutet auf einen Baum in dem abgetrennten Bereich: „Meine Verlobte sitzt auch in dem Baum.“ Deshalb wartet auch er, was passiert. Und erzählt, warum er den Protest unterstützt. Weil der Senat die Interessen der Lampedusa-Gruppe ausgenutzt habe, um das große Anliegen der Flüchtlinge aus der Öffentlichkeit zu zerren. Weg vom Oranienplatz. „Die Flüchtlinge sollen wieder in Lager gesperrt werden. Und Lager ohne Anführungsstriche.“ Sie wollen weiter protestieren, auch nach der Räumung.

Oranienplatz auch ein Symbol linker Gruppierungen

Längst ist der Oranienplatz Symbol und Bühne für den Kampf verschiedener Gruppen geworden: Flüchtlinge, Unterstützer der Flüchtlinge, linke Gruppierungen, Sozialstaat, Staatsgewalt. Nebenan am Kottbusser Tor, wo sich am Abend ein Protestzug formiert, verteilt die kommunistische Jugendorganisation Revolution Flugblätter, in denen sie das kapitalistische System anklagen. Zusammen mit dem letzten Grüppchen Flüchtlinge rufen sie: „Say it loud, say it clear, Refugees are welcome here.“

Die Polizei bewacht derweil noch immer den Baum, in dem die Aktivisten sitzen. Was passiert mit ihnen, wenn sie herunterkommen? „Dafür liegen uns noch keine Anweisungen vor“, sagt eine Polizistin.