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Die Barbarei der frustrierten Mittelklasse

Ein jugendlicher Räuber wurde erschlagen, 13 Mal wollten normale Bürger Diebe lynchen. Die Argentinier halten die Kriminalität für das größte Problem im Land.

Wäre nicht Hausmeister Alfredo dazwischengegangen, die aufgebrachte Menge hätte einen Handtaschendieb mitten in der Hauptstadt Buenos Aires totgeschlagen. „Tötet ihn! Dann kann er wenigstens nichts mehr anrichten“, schrie einer. Doch Alfredo, der den Jugendlichen auch ergriffen hatte, schützte den am Boden Liegenden vor weiteren Tritten. „Nicht mal einen Hund bringt man so um“, sagte er später im Fernsehen.

13 versuchte Lynchmorde hat es in den vergangenen Wochen in Argentinien gegeben, nachdem ein 18-Jähriger Räuber in der Stadt Rosario zu Tode geprügelt worden war. Die argentinischen Medien sprechen von Barbarei, die Präsidentin Cristina Kirchner warnte vor Pogromen wie in Nazi-Deutschland. Selbst Papst Franziskus hat sich nach dem Lynchmord an seine Landsleute gewandt: „Die Schläge haben meine Seele getroffen. David Moreira war einer von uns. Auch wenn er ein Krimineller war.“

In keinem lateinamerikanischen Land gibt es mehr Raubüberfälle als in Argentinien. Die Regierung ist überfordert, da die Polizei nicht für Sicherheit sorgen will oder kann. Jetzt wurde im gesamten Großraum Buenos Aires der Notstand ausgerufen. Aber lange hat die Regierung die Gewalt ignoriert, die in Zusammenhang mit Drogenschmuggel steht. Nicht nur in den Elendsvierteln im Großraum Buenos Aires, den villas miserias, hat der Staat sein Gewaltmonopol an Rauschgiftbanden abgegeben. Für viele Argentinier ist die Unsicherheit das größte Problem im Land – noch vor der grassierenden Inflation.

Spaziergänger mutieren zu Schlägern

Fällt die Unsicherheit und die Angst vor dem sozialen Abstieg zusammen wie derzeit, brennen sogar unter den Gebildeten die Sicherungen durch. Auf Argentiniens Straßen ist eine regelrechte Jagd auf die motochorros ausgebrochen, Räuber auf Motorrädern, die fast täglich stehlen und sogar morden. Und die, so glauben viele, für ihre kriminellen Machenschaften selten belangt werden. Die Bürger machen die Regierung dafür verantwortlich, dass die Polizei nie rechtzeitig zur Stelle ist und Richter vermeintlich milde Urteile sprechen. Und so prügeln Spaziergänger auf Kleinkriminelle ein, selbst wenn diese längst reglos am Boden liegen.

Der argentinische Schriftsteller Diego Grillo Trubba war Zeuge des Gewaltexzesses, der durch den mutigen Hausmeister Alfredo beendet wurde. Er sagt, die meisten Anwesenden hätten sich an den Tritten selbst beteiligt oder die Schläger angestachelt. Eine Frau, die eingreifen wollte, hätten sie beschimpft. „Sie Hure sind wohl seine Mutter und wollen ihn beschützen.“

Die Szenen spielten sich in dem gehoben Stadtviertel Palermo ab. Auch in anderen traditionellen Vierteln der Oberschicht häufen sich Attacken auf Diebe, die ein Handy oder ein paar Schuhe klauen. Steckt wirklich nur Wut auf die mutmaßliche Straffreiheit für Kleinkriminelle hinter den Attacken, fragen sich Feuilletonisten. Oder hat die Gesellschaft ihre moralische Integrität eingebüßt?

Die argentinischen Kommentatoren sind sich einig: Die Leute haben es satt, dass die Regierung das Thema verschweigt oder andere dafür verantwortlich macht. In der Vergangenheit schob nämlich Präsidentin Kirchner die Schuld gern auf zu gnädige Richter. Im kommenden Jahr sind Präsidentschaftswahlen – und nicht nur die Opposition hat die Unsicherheit der Menschen als Wahlkampfthema aufgegriffen.

Daniel Scioli von der peronistischen Partei, Gouverneur der bevölkerungsreichsten Provinz Buenos Aires, will 2015 als Konkurrent von Kirchner zur Wahl antreten. Er hat den Sicherheitsnotstand ausgerufen und mehr Geld für die Ausrüstung der Sicherheitskräfte freigegeben. Damit hat er Cristina Kirchner herausgefordert, die dies bislang abgelehnt hat.

Greifen seine insgesamt 22 Maßnahmen, könnte sich Scioli bei den Vorwahlen als Kandidat der Peronistischen Partei durchsetzen. Derzeit liegt er in den Umfragen allerdings noch hinter dem Oppositionspolitiker Sergio Massa an zweiter Stelle. Der Anwärter des konservativen Lagers, Mauricio Macri führte die Lynchversuche auf die mangelnde Präsenz des Staates zurück. Macri hat als Bürgermeister von Buenos Aires eine eigene Stadtpolizei eingeführt. Er hofft damit beim Thema Sicherheit punkten zu können.

Regierung beim Thema Sicherheit gespalten

Die Regierung selbst ist gespalten. Mehrere Vertraute der Präsidentin kritisierten, die Maßnahmen Sciolis seien nicht präventiv. „Es ist eine Lebensaufgabe, den Weg der Kriminalität wieder zu verlassen. Das gelingt nur, wenn man zur Schule geht oder arbeitet“, sagt zum Beispiel Bildungsminister Alberto Sileoni. Deshalb setze die Regierung auf Arbeitsprogramme und finanzielle Anreize, Kinder in die Schule zu schicken.

Gleichzeitig zeigt der Staatssekretär für innere Sicherheit, Sergio Berni, dass die Regierung auch hart gegen das Gewaltproblem durchgreifen will. In die Drogenhochburg Rosario, in der in diesem Jahr schon fast hundert Personen in Bandenkriegen ermordet wurden, schickte Berni vergangene Woche 2.000 Polizisten. „Sie bleiben so lange, bis das Problem behoben ist“, versprach Berni.

Doch ob die Regierung die Wut der Bürger damit beruhigt, ist zweifelhaft. Das liegt auch am schlechten Ruf der Polizei. Erst im Dezember erlebte Argentinien eine Welle aus Gewalt und Plünderungen. Die Polizei streikte und rückte trotz einiger Tote nicht aus. Viele Argentinier waren überzeugt, dass viele Polizisten in Zivil mitplünderten oder mit den Räubern unter einer Decke steckten. Ein Gericht verurteilte  deshalb tatsächlich insgesamt 23 Polizisten.